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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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mich nie in Stich gelassen. Ich habe immer an ihn gedacht, mein Leben lang.«
    Als sie das sagte, erinnerte ich mich, dass er ja gestorben war, bevor sie geboren wurde. Doch ich hielt den Mund; sie war in einem Alter, in dem das Gedächtnis nachließ. Sie indes sprach weiter, blickte an meiner Schulter vorbei, als ob sie etwas sähe. Aber hinter mir war nur die Wand mit den zwei weiß gestrichenen, schmucklosen Bücherregalen.
    »Als Daisy mich aus London zurückholte, gaben sie mir dieses Zimmer. Es war das Zimmer, in dem meine Mutter mich zur Welt gebracht hatte und verblutet war. Kannst du dir etwas Geschmackloseres vorstellen? Aber das war ein Gedanke, den ich erst später hatte, nachträglich, als ich den Sachverhalt kannte.«
    »Ach«, sagte ich betroffen, »das wusste ich nicht.«
    »Ob du es glaubst oder nicht, einstweilen fühlte ich mich
    ganz wohl in dem Zimmer. Ich war ja bei ihr, in ihrer Obhut.« Sie setzte hinzu, ganz sachlich:
    »Das Licht ist genau, wie es sein muss. Ich werde hier malen.«
    Ich wollte nicht gefühlsduselig werden. Sie war es ja auch nicht.
    »Warum nicht? Hier hast du Platz und Ruhe. Die Treppen, allerdings...«
    »Die Treppen sind mir egal, hab ich gesagt!«
    Sie entfernte sich in ihren Erinnerungen, aus denen heraus sie in abwesendem Tonfall sprach.
    »Ich hatte diesen Gedanken schon lange. Dass ich hier arbeiten wollte, meine ich. Ach, was ist die Kindheit, wenn nicht ein zunehmendes Bewusstwerden, eine Überlagerung von Erfahrungen? Damals natürlich war ich unfähig, meine Gefühle zu zeigen. Eine Zeit lang existierte ich in einem traumähnlichen Zustand, ganz damit beschäftigt, die mir unverständliche Umgebung aus der sicheren Distanz einer Welt aus Glas zu betrachten. Ich lebte in der Gesellschaft von Schatten. Bis ich diese Welt zerschlug und die Gefühle aus mir hervorbrachen, ohne Lärm, indem sie den Boden erschütterten. Ich hatte entdeckt, dass ich sie auf eine andere, irgendwie ursprünglichere Weise ausdrücken konnte. Was ich eigentlich meine: Ich begann, sie zu malen. Nun sag mir – mehr will ich nicht –, das verstehst du doch, nicht wahr?«
    Mir kamen ihre frühen Aquarelle in den Sinn, die Ratten, die Wespen auf dem faulen Obst. Ich bekam ein unangenehmes Gefühl, ein sonderbares Frösteln im Rücken. Als ob jemand hinter mir stünde; jemand, den ich spürte, aber nicht sehen konnte. Unwillkürlich machte ich einen Schritt zur Seite.
    »Ja, natürlich. Ich helfe dir. Die Sachen müssen raus. Willst du, dass wir gleich anfangen?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Warte noch!«
    Ihre Augen schweiften umher. Sie zerrte an ihrem Glitzerschal, als ob er ihr die Luft abschnürte.
    »Warum sollte ich etwas sehen, wovon nichts mehr zu sehen ist? Oder können Gefühle zu Formen werden?«
    Ich wurde allmählich unruhig. Sie wirkte so verwirrt. »Ich weiß es nicht.«
    Sie kniff die Augen halb zu, starrte mich böse an.
    »Ja, was weißt du schon?«
    »Haben sie dir nie erzählt, wer dein Vater war?«
    Ich bereute die Frage sofort, hatte ich doch erlebt, wie jäh ihr Zorn aufflammen konnte. Aber sie antwortete ganz vernünftig.
    »Ohren hatte ich ja, dass ich hören konnte. Aber ich war zu gutgläubig, als dass ich richtig hätte hören können. Ich wartete, ohne genau zu wissen, worauf, und sie haben mir Lügen aufgetischt.«
    »Wann hast du die Wahrheit erfahren?«
    »Das war, als ich mein neues Zimmer bezog. Ach ja, ich entsinne mich gut, wie stolz und zufrieden ich war, dass ich endlich zu den Erwachsenen gehörte. Im Zimmer stand ein Bücherschrank, ein hübsches Möbel, mit Ebenholz verziert. >Du musst Bücher hineinstellen, auch wenn du sie nicht liest<, sagte Melissa, >sonst sieht es einfach lächerlich aus.< Bisher hatte ich Romane nämlich nie beachtet. Bildbände und Lexika, ja, mit denen konnte ich mich stundenlang befassen. Ich las auch die Tageszeitungen, bevor James sie entsorgte, weil das damals als unweiblich galt. Und in meiner Freizeit nähte ich mir Klamotten. Jetzt gehörte mir also eine kleine Bibliothek. Und so lange Dinge mir neu waren, ließ ich mich von ihnen fesseln. Ich ging nach oben und räumte ein paar Bücher aus, als ich unter der Tapete etwas Grünes blitzen sah.«
    Sie trat an mir vorbei, auf die Regale zu.
    »Da«, sagte sie.
    Sie schob auf dem unteren Regal die Bücher zur Seite. Eine Öffnung, mit Tapetenfetzen verklebt, kam zum Vorschein. Francesca steckte den Arm bis zum Ellbogen hinein. Dann zog sie behutsam den Arm wieder heraus,

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