Muschelseide
um ihre gerundete Hinterseite, die aus dem Sandboden ragte. Aber inzwischen merkte ich auch, dass ich nicht mehr konnte. Flecken tanzten vor meinen Augen. Ich schwamm aufwärts, dem Licht entgegen, kam atemlos und prustend an die Oberfläche, nur eine kurze Strecke vom Boot entfernt, das ich mit einigen kräftigen Schwimmstößen erreichte. Ich machte Toni das V-Zeichen.
»Gefunden!«
»Das ging aber schnell«, meinte Toni.
Um eine Muschel auszureißen, hatte ich mich entschlossen, keine Rundzange zu gebrauchen, sondern ein Stück Seil, das am Ende zu einer Schlinge geknüpft war. Ich meinte, dass auf diese Art der Boden weniger beschädigt würde. Nachdem ich mich eine kleine Weile ausgeruht hatte, zog ich die Taucherbrille wieder über die Augen, füllte meine Lungen mit Luft und ließ mich wie ein Stein in die Tiefe gleiten. Da ich mir die Stelle gemerkt hatte, kam ich recht bald dorthin, wo sich das Helle in Dämmerung verwandelte und ich zwischen den Felsblöcken die Seegräser erblickte. Ich schwebte über sie, wie über eine Wiese, die sich im Wind kräuselte. Schwamm ich tiefer, öffneten sich die Büschel, gaben mir das trügerische und gefährliche Gefühl, es müsse wunderbar sein, in den weichen Mulden zu ruhen. Schon bald erblickte ich die Muscheln, größere und kleinere, die mal verdeckt, mal gut sichtbar waren. Viel Zeit blieb mir nicht: Ich wählte eine Muschel aus, wobei ich überrascht feststellte, dass sie größer war, als ich eigentlich gedacht hatte. Ich legte ihr die Schlinge um, zog sie an. Die Muschel saß fest, und ich musste mich anstrengen. Die Seegräser zogen über meine Arme, zäh und grün, bis ich die Muschel richtig zu fassen bekam und sie endlich nachgab. Ein kleiner Schlammnebel löste sich aus dem Boden, wo sie gesteckt hatte, und nahm mir die Sicht, aber mit kräftigen Beinschlägen schwamm ich bereits aufwärts, in einer Säule aus Luftbläschen. Ich tauchte schwungvoll auf und legte mich auf den Rücken, um mich zu erholen. Dann warf ich mich herum und kraulte auf das Boot zu, das in einiger Entfernung gemächlich schaukelte. Toni nahm mir die Muschel ab.
»Oh, die ist aber groß!«
»Nicht wahr?«, sagte ich atemlos.
Er packte mich unter den Armen und zog mich ins Boot, wo Wilma dabei war, einen Fisch zu verzehren.
»Woher hat sie diesen Fisch?«, fragte ich. »Selbst gefangen?«
Toni zeigte mir grinsend eine Schnur mit einem kleinen Angelhaken.
»Er hat gerade angebissen. Wilma weiß schon, warum sie mit mir auf See geht. Frischer Fisch schmeckt einfach besser als Dosenfutter!«
Zwei Tage später machte ich mich recht früh auf den Weg zum Flughafen. Ich wusste, dass ich für die Ausfuhr der Muschel, die ich in feuchter Watte eingewickelt in einer Schachtel trug, eine Genehmigung vom Zoll brauchte. Ich bestieg das Flugzeug, nachdem ich die Formulare ausgefüllt hatte, und der Flug verlief ohne Zwischenfall. Um halb zwei landete die Maschine in Zürich.
Annabel Kossack war schon da und trank frisch gepressten Orangensaft durch einen Strohhalm. Es war schon so, dass sie alle Blicke auf sich zog. Nicht nur ihre Körpergröße fiel auf, sondern auch ihr silbrig-helles Haar, ihre feenhafte Eleganz. Sie trug einen seidenen Hosenanzug, eierschalenfarben, eine schwarze Bluse und High Heels, die sie in schwindelerregende Höhe hoben. Als ehemaliges Laufstegmodel hatte sie immer noch ihren gleitenden Gang, die Hüften leicht vorgeschoben. Sie schritt nicht aus, sie schwebte auch dort über den Boden, wo ich mich glatt auf den Allerwertesten gesetzt hätte. Sie war dafür berüchtigt, dass sie bei Verhandlungen eine eiskalte Miene zur Schau trug und Gegner in der Businesswelt mächtig einschüchterte. Zum Glück mochten wir uns und wussten zu schätzen, was die jeweils andere machte. Als sie mich kommen sah, erhob sie sich halb aus ihrem Korbstuhl. Wir umarmten uns, beide sehr glücklich, uns zu sehen.
»Tut mir leid, dass du wieder fliegen musstest«, sagte sie in ihrer gedehnten Sprechweise, »ich weiß, dass es dir da oben nicht gefällt.«
»Unter Wasser fühle ich mich eindeutig wohler.«
»Ich – ich schwimme nur im Pool.«
Das stimmte: Diese nixengleiche Schönheit misstraute fremden Gewässern und aalte sich lieber in Badewanne und Swimmingpool. Ich lachte und sagte:
»Jedem das seine.«
Der Kellner kam.
»Orangensaft?«, fragte Annabel.
»Lieber einen Kaffee«, sagte ich. »Und ein Stück Himbeertorte. «
»Du solltest auf deine Linie achten«, meinte sie
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