Muschelseide
drehte eine kleine Anzahl der Byssushaare zu einem winzigen Faden. Ihre Bewegungen waren gleichmäßig wie ein Pendel. Das dauerte eine Weile; wir sahen ergriffen zu, und nur die Wespe summte. An der nahen Kirche schlugen die Glocken Mittag, als Nona die Fäden auf ihren Webrahmen spannte und das Schiffchen betätigte. Ich wandte die Augen nicht von ihren Fingern, die so klein und kräftig waren. Über ihren hölzernen Webstuhl gebeugt, ließ sie das Schiffchen hin und her gleiten, mit der gleichen Bewegung, die Generationen von Frauen vor ihr ausgeübt hatten, eine Bewegung, die sich ins Unendliche wiederholte, begleitet von dem Geräusch, das viele tausend Jahre alt war: Klick-klack, klick-klack ...
»Sehen Sie?«, flüsterte sie dabei, wie in Trance. »Sehen Sie gut zu, wie es gemacht wurde!«
Ich schloss die Augen, und das bronzene Leuchten blieb da. Ich träume, dachte ich, und sah mich als Schülerin im Kloster, hörte die Nonne, die uns in Geschichte unterrichtete, von der Sagenwelt der Antike erzählen. Sie sprach über etwas, das mit dieser Sache in Zusammenhang stand. Was war es nur gewesen? »Klick-klack, klick-klack«, machte unentwegt das Schiffchen. Das Geräusch wirkte einschläfernd, schon vergaß ich, woran ich dachte, als es mir unvermittelt wieder einfiel. Die Nonne hatte von drei himmlischen Frauen erzählt, die an ihrem Webstuhl hoch über den Wolken die Lebensfäden der Menschen verknüpften. Sie hatte auch ihre Namen genannt. Wie hießen sie nur? Ich konnte mich nicht entsinnen, es war schon so lange her. »Klick-klack, klick-klack ...« Das Schiffchen pochte wie mein Herz. Und plötzlich fielen mir die Namen ein, und ich sprach sie in meiner Verwirrung laut aus:
»Die drei Parzen. Nona, Decima, Morta ...«
Dann Stille. Nona hatte ihre Arbeit unterbrochen, das Gesicht gehoben. Sie kniff die Augen leicht zu, bevor ein Lächeln ihre Züge verklärte. Es lag viel Freundschaft in diesem Lächeln, eine Freundschaft sehr besonderer Art, unbefangen, ernst, voller Melancholie.
»Ach, Sie kennen diese Namen?«
Ich schluckte und sagte:
»Ja, aus dem Schulunterricht.«
Sie nickte langsam; das Lächeln verblieb auf ihrem Gesicht.
»Unsere Familie hütete alte Geheimnisse. Viele davon sind vergessen. Aber in jeder Generation trug eine von uns diese Namen. Meine Großmutter hieß Morta, meine Mutter Decima. Und ich heiße Nona.«
Unten rasselte ein Schlüsselbund, eine Tür ging auf. Schritte und fröhliche Stimmen durchbrachen die Stille. Nona schwenkte gelenkig auf ihren Schemel herum, sprang mit fast kindhaft eiliger Bewegung auf die Füße.
»Jetzt sind alle da! Jetzt werden Sie meine Familie sehen!«
Schon war sie an der Tür, lief mit klappernden Pantoffeln die Stufen hinunter. Wir folgten ihr, nach einem letzten Blick auf den Webstuhl, und kamen unten an, gerade als Lorenzo und die Jungen den Salon betraten. Es gibt Menschen, bei denen, sobald man sie trifft, die von den Höflichkeitsregeln verlangten Zwischenräume und Wartezeiten ihren Sinn verlieren, weil diese Menschen in ihrer eigenen Welt leben und die anderen freimütig in diese hineinziehen. Und so war unsere Begrüßung zwanglos und herzlich. Lorenzo war von ansehnlicher Größe, schmal, dunkelhäutig und sehr langbeinig. Ich fand, er sah gut aus, obwohl bereits graue Strähnen sein Haar durchzogen. Tiefe Linien umrahmten seine grünen Augen, ein Spiegelbild der Falten, die um seinen Mund lagen. Trotzdem schien er ein Mann zu sein, der gern lachte, und sein Lachen machte, dass er jünger aussah. Die Söhne hatten die großen, ausdrucksvollen Augen des Vaters. Der überaus schlanke Giljan zeigte die gleiche Besonnenheit, während Carlo, mit kräftigem Körperbau und tintenschwarzem Haar, eher nach der Mutter kam. Beide Söhne halfen ihr, das Essen aufzutragen. Die Gerichte waren einfach, aber ausgezeichnet. Die Minestrone hatte einen wunderbaren Minzgeschmack, das Fischrisotto war goldgelb, mit Safran und Rosinen gewürzt. Nona backte sogar ihr eigenes Brot. Giljan und Carlo bedienten uns höflich und zuvorkommend. Wir tranken einen großartigen Wein und Wasser, das kühl aus dem Brunnen und nicht aus dem Kühlschrank kam. Während des Essens war viel von unserem Beruf die Rede. Lorenzo, der im Krankenhaus alles Mögliche erlebte, spielte sich nicht in den Vordergrund. Er war ein Mann, der gern zuhörte, und hatte darin viel Ähnlichkeit mit Kazuo. Er und ich sahen einander oft an, über den Tisch hinweg suchten sich unsere Augen.
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