Muschelseide
Nachbarhaus. Alle Häuser waren aus Kalksandstein und strahlten licht und sauber in der Sonne. Es waren Bauwerke aus verschiedenen Stilepochen, aber harmonisch zusammengesetzt. Auf den Flachdächern flatterte fröhlich Wäsche, und gut genährte, goldbraune Katzen schliefen oder putzten sich im Sonnenlicht. Der Wind wehte hoch über uns, als rausche das Meer. Die Häuser hatten stets neben der Nummer das aus Stuck oder als Mosaik gefertigte Bild eines Heiligen oder der Muttergottes. Die winzigen Vorgärten waren gepflegt, die Vorhänge hingen in akkuraten Falten.
»Hier sind wir«, sagte ich und stieg ein paar Stufen hinauf.
An der Tür hing ein Klöppel in Form eines Delfins, wie ich ihn in Cagliari bei Decima gesehen hatte. Aber es war auch eine Klingel vorhanden, die ich drückte. Wir hörten rasche Schritte, eine fröhliche Stimme; die Tür flog auf. Eine Frau erschien und streckte mir lachend beide Hände entgegen.
»Sie sind Beata Sforza? Kommen Sie, kommen Sie rasch herein! Die Sonne brennt stark!« Sie machte eine Geste, als wollte sie meine Hände ergreifen, vollendete sie jedoch nicht, als ob eine gewisse Scheu sie davon abhielte, und richtete ihre Augen auf Kazuo, der höflich hinter mir stand. Ich übernahm das Vorstellen, Kazuo verneigte sich, während Nona lebhaft weitersprach:
»Oh! Willkommen! Ich bin ja so glücklich, dass Sie da sind! Mein Mann arbeitet, und die Kinder sind noch in der Schule, werden aber bald zurück sein. Sie bleiben doch sicher zum Essen?«
Obwohl klein von Gestalt, mit breiten Hüften und einem fast dicken Kopf, war sie biegsam, kräftig, graziös. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und selbstsicher. Auf Malta, wo die Menschen zurückhaltend sind, hatte sie sich ihre italienische Herzlichkeit und Unbefangenheit bewahrt. Ich betrachtete neugierig ihr Gesicht, das wirklich erstaunlich war, charaktervoll, weder jung noch alt, zeigte es doch zugleich den Ausdruck eines übermütigen Mädchens und einer vorzeitig gealterten Frau, etwas, das nicht zusammenpasste. Unter dem Haar, das ihr wippend in die Stirn fiel, waren die Wangen schmal, die Nase gerade und fein, und der Mund schien blass, weil die Augen so groß waren, von einem fast violetten Blau, scharf und glänzend. Ich kam von dem Anblick dieser Augen nicht los, vermochte mir nicht vorzustellen, dass dieser Glanz eines Tages erlöschen und sie blind werden würde wie ihre Mutter.
»Mir bleiben noch zwanzig Jahre. Ungefähr«, hatte sie mir am Telefon gesagt.
Sie bewirtete uns mit Kaffee und Mandelkuchen. »Selbst gebacken«, sagte sie stolz, als wir ihn lobten. Das Wohnzimmer war geräumig, die Wände weiß getüncht. Die Möbel waren ein Gemisch aus altertümlich und modern, die Gemälde – vorwiegend Landschaftsbilder – eher kitschig, die Teppiche aber von guter Machart. An der Decke hing ein Murano-Kronleuchter. Das Zimmer wurde erhellt durch ein großes Fenster mit weißen Vorhängen, die leicht wehten, sowie durch eine Scheibe in der Tür zum länglichen Garten. Orangenbäume wuchsen dort, die Rosensträucher waren wild, von fleischigen Knospen gekrönt. Unter einer Korkeiche, die vermutlich älter als das Haus war, stand eine Steinbank, und der Wind schüttelte eine Lorbeerhecke.
Inzwischen erzählte Nona von ihrem Mann, der als Anästhesist im nahen Krankenhaus arbeitete. Eine verantwortungsvolle Aufgabe, die viel Genauigkeit erforderte. Giljan, der älteste Sohn, würde bald das Elternhaus verlassen, um in Valletta Medizin zu studieren. Carlo, der jüngste, war erst dreizehn.
»Er interessiert sich nur für Fußball«, sagte Nona und lachte wie ein Wasserfall. Doch während sie lachte und plauderte, uns immer wieder aufforderte, Mandelkuchen zu essen, merkte ich, dass sie uns studierte, unser Wesen zu erfassen versuchte. Ich konnte fühlen, wie ihr Geist sich dem unseren behutsam näherte, wie ihre Augen dann und wann an dem Tuch aus Muschelseide verweilten, das ich zusammengerollt in dem Ausschnitt meines T-Shirts trug. Behutsam und zielstrebig tastete sie sich an uns heran, stellte auch Kazuo viele Fragen, setzte uns dabei eine unerbittliche Liebenswürdigkeit entgegen, einen Wall von Wohlerzogenheit, der sie unergründlich machte. Und als sie endlich ihr Geplauder einstellte und mit ernstem Gesicht zu mir sagte: »Sie tragen einen Schal aus Bisso marino«, da wusste ich, dass wir die hintergründige Prüfung endlich bestanden hatten. Wortlos nahm ich den Schal von meinem Hals und legte ihn Nona in die
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