Muschelseide
freundlich die Hände; aber vielleicht war das, was ich für Sympathie hielt, lediglich Dankbarkeit. Denn als das Essen beendet war, die Söhne den Tisch abräumten und Nona in der Küche den Kaffee zubereitete, richtete Lorenzo seine tiefgründigen Augen auf die meinen und sagte in einer sonderbaren Unbefangenheit und ziemlich bewegt:
»Sie haben uns unendlich viel Gutes erwiesen. Sehen Sie Nona an, wie sie lacht! Sie ist jetzt ruhiger geworden, seitdem wir die Kinder haben. Ich glaube, dass sie den größten Teil des Tages glücklich ist. Aber sie trägt diese Unruhe in sich, weil sie zu viele Dinge weiß, die sie nicht mitteilen kann. Ihre Mutter Decima wird nicht mehr lange leben. Und dann ist es aus, das Wissen geht verloren. Nona lebt mit dem Gedanken, dass ich sie verstehe, ihr aber nicht helfen kann. Die Jungen sehen’s wahrscheinlich weniger. Sie haben ihre Freunde, ihren Sport. Sie sind auch zum Glück viel zu unkompliziert. Aber ich – ich weiß Bescheid.« Er setzte hinzu, mit einem Seufzer:
»Sie besitzen ihr volles Vertrauen. Tun Sie das Äußerste, versuchen Sie das Unmögliche! Ich bitte Sie darum.«
Und weil es für ihn und die Jungen Zeit war, aufzubrechen, erhob er sich und sagte noch abschließend:
»Ich zähle auf Sie!«
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Auch Kazuo und ich machten Anstalten, zu gehen, doch Nona sagte, wir sollten noch einen Augenblick warten. Sie brachte Lorenzo und die Söhne an die Tür, bevor sie sich wieder zu uns setzte.
»Noch etwas Kaffee? Oder lieber Wasser aus unserem Brunnen?«
Sie füllte unsere Gläser. Ihre Augen leuchteten, wie übersät von goldenen Pailletten. Und angesichts ihres Glanzes, ihrer Frische und Unschuld erkannte ich plötzlich, wie sehr dagegen das Gesicht dieser noch jungen Frau verbittert und vorzeitig gealtert war. Ihre Fröhlichkeit war plötzlich wie erloschen.
»Wissen Sie«, begann sie mit stockender Stimme, »ich wollte es nicht vor den Jungen sagen. Ich ... habe immer wieder denselben Traum. Ich hatte ihn auch jetzt wieder, in dieser Nacht. Mein Gott, sagen Sie es mir ehrlich: Langweile ich Sie auch nicht, wenn ich weiter von diesem Traum erzähle?«
»Ich möchte ihn gern hören«, sagte ich.
»Wirklich? Wahrhaftig?«
Ihre übersteigerte Freude verstörte mich fast. Gierig ergriff sie meine Hand, ihre Finger brannten geradezu von innerem Feuer.
»Also, hören Sie. Ich träume, dass es frühmorgens ist, dass ich noch schlafe. Im Schlaf höre ich, wie draußen der Klöppel auf das Holz fällt. Jemand steht vor der Tür. Im Traum verlasse ich mein Bett, gehe die Stufen hinunter. Ich trage nur ein Nachthemd aus Leinen, das ich selbst gewebt habe. Ich öffne die Tür und sehe eine ganz junge Frau. Es ist immer die gleiche Frau, ich würde sie auf jedem Bild erkennen. Sie hat dickes schwarzes Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, und trägt eine Brille. Sie hat eine weite Reise hinter sich, sie sieht müde aus. Den Rucksack hat sie neben sich auf die Stufen gestellt. Sie ist mehr als hübsch, sie ist unendlich liebenswert. Sie selbst wäre ernstlich verwundert, würde man es ihr sagen. Sie glaubt nämlich, dass sie wenig anziehend sei. Sie lächelt scheu, sie sagt mir, wie sie heißt. Im Traum kenne ich ihren Namen gut, ich murmele ihn oft vor mich hin. Manchmal vermengt sich dieser Name, bis er auf geheimnisvolle Weise eins wird mit anderen Namen, die ich im Kopf habe, die ich aber beim Aufwachen vergesse. Ich sage zu ihr: ›Möchten Sie einen Kaffee?‹ Sie nickt lächelnd, zieht ihre Schuhe aus und tritt hinter mir ins Haus. Sie geht völlig lautlos, mit behutsamen Schritten. Ich weiß, es ist die Frau, die mir die Tochter ersetzt, die den goldenen Faden wieder aufnehmen wird, dem Fluch der Blindheit aber entgehen kann, weil sie ja nicht von meinem Blut ist. Dann erwache ich und weiß, dass es sie gibt, dass sie irgendwo auf dieser Welt lebt. Ich habe diese junge Frau nicht erfunden, weil sie wirklich ist. Und sie weiß es, wie ich es weiß: Unsere Traumerscheinungen stimmen überein. Für mich sind die Jahre Schritte, die das eilende Schicksal mir zuteilt. Sie aber hat alle Zeit dieser Welt. Sie wartet auf unser Stelldichein, sie wartet mit einer Geduld ohne Grenzen und ohne Unruhe. Denn es ist mein Bild, das sie in der Pupille trägt und beschlossen hat, zu erträumen, um es nie zu vergessen, jede Nacht...«
Nona senkte das Gesicht. Ich sah ihre großen Augen, die Iris glänzte feucht, als sei sie von Tränen
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