Muschelseide
dann, beim dritten Tauchgang, entdeckte ich wahrhaftig eine Seegraswiese mit Steckmuscheln. Das Seegras gehörte zu der Sorte Cymodosa nodosa , die eigentlich nicht sehr artenreich ist. Die Wiese hatte sich genau an der Stelle gebildet, wo der Meeresarm in die offene See mündete. Es regnete nicht viel auf der Insel, höchstens acht- oder zehnmal im Jahr und immer nur für zwei oder drei Tage, dafür aber ziemlich stark. Die Regenfälle hatten viel Küstensand ins Meer getrieben. Die Wiese sah wie ein kleiner Unterwasserhügel aus, die Steckmuscheln waren aber nicht sehr zahlreich. Ich nahm an, dass der Sand von den Salzpfannen kam und der Nährboden für Wasserorganismen ungünstig war. Ein zu hoher Salzgehalt war nicht gut für die Steckmuscheln. Etwas weiter fiel der Meeresboden steil ab. Ein tief dunkler Trichter, verlockend für jeden Taucher, hatte sich hier gebildet. Doch in dem Loch wuchsen keine Seegraswiesen, es war vollkommen sinnlos, dass ich tiefer ging. Die Pinna nobilis braucht optimale Lichtverhältnisse und eine gleichmäßige Strömung mit genügend Nährstoffen. Folglich schwamm ich an die Oberfläche zurück und entdeckte, als ich mich herumwarf, dass ich mich ziemlich weit von der Küste entfernt hatte. Es war immer das Gleiche beim Tauchen: Man legte große Strecken zurück und merkte es erst nachträglich. Nach einer kurzen Verschnaufpause kraulte ich mit raschen Stößen auf die Küste zu und erblickte bald Kazuos schwarzen Haarschopf im Wasser. Er lachte erleichtert, als er mich kommen sah. Wir schwammen zusammen dem Strand entgegen. Ein paar Augenblicke später berührten unsere Füße den Sandboden. Wir nahmen die Taucherbrillen ab und stiegen mit klatschenden Flossen aus dem Wasser.
»Du bist zu schnell für mich«, sagte Kazuo, halb lachend, halb zerknirscht.
»Dafür habe ich geübt«, sagte ich heiter. »Und du solltest auch üben. Beim Tieftauchen ist die Partnersicherung ebenso wichtig wie der Faden der Ariadne.«
Er sah mich fragend an, und ich erklärte es ihm.
»Der Partner hängt sich an ein Seil, empfängt den Taucher in etwa zehn Metern Tiefe und schaut ihm in die Augen.«
»Ach, und warum angerechnet unter Wasser?«
»Um sofort zu bemerken, ob der Taucher ohnmächtig wird.« »Keine Frage«, seufzte Kazuo. »Ich muss üben!«
»Du kannst zunächst im Schwimmbassin trainieren«, sagte ich. »So habe ich auch angefangen.«
Wir setzten uns zusammen auf das Handtuch. In meinem Rucksack hatte ich Traubenzucker und eine Flasche Wasser. Wir kauten den Traubenzucker, tranken abwechselnd aus der Flasche. Der Wind war kühl. Weil ich etwas fror, zog ich meine Trainingsjacke über. »Wie war’s da unten?«, wollte Kazuo wissen.
»Nicht sehr überzeugend, leider. Ich habe eine Seegraswiese mit ein paar Steckmuscheln gefunden. Aber sie können nicht wachsen, weil das Wasser zu salzig ist.«
»Wie groß können die Muscheln werden?«
»Oh, die größten sollen einen Meter hoch sein.«
»So groß!«
»Ich selbst habe noch nie solche gesehen. Immerhin ist das Wasser hier sauber.«
»Gehst du wieder?«, fragte er in unglücklichem Tonfall. »Du meinst, ob ich gleich wieder tauche?«
Er sah ein wenig betreten aus.
»Ich fürchte, dass ich dir nicht sehr nützlich sein kann.«
»Das kannst du ja gar nicht wissen«, sagte ich. »Plötzlich laufen die Dinge anders als erwartet, und dann ist der Partner die beste Lebensversicherung.«
Er wusste nicht, ob ich es ernst meinte, und wie jedes Mal, wenn das passierte, zeichnete sich etwas wie Schrecken auf seinem Gesicht ab.
»Zum Scherz?«
Ich tröstete ihn.
»Das ist nur so eine Redensart. Aber hier tauche ich nicht mehr, es lohnt sich nicht. Hat das Wasser einen zu großen Salzgehalt, weiß ich im Voraus, dass sich Steckmuscheln rar machen. Da sind Gesetze, die das Ökosystem prägen. Die Natur reagiert bei jeder Veränderung empfindlich. Wir fahren jetzt zum Hotel zurück, ja? Vorausgesetzt, dass du hier nicht üben willst.«
»Lieber erst in ein paar Tagen«, meinte er. »Im Augenblick ist mir das Meer noch zu tief.«
Ich richtete mich lachend auf, nahm ihn bei der Hand und zog ihn hoch.
»Keine Frage, du musst im Schwimmbad trainieren!«
Später, im Hotel, sagte Kazuo zu mir:
»Du bringst mich auf so viele Gedanken, sie gehen mir ständig im Kopf herum.«
»Das ist immerhin besser«, erwiderte ich, »als wenn du dich mit mir langweilen würdest.«
»O nein, deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. «
»Du wirst
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