Music from Big Pink: Roman (German Edition)
ganze Straße entlang konnte ich ihn durch die sanften weißen Lichthöfe der Straßenlaternen rieseln sehen. Ich war etwas angetrunken, wie ich da mit tauben, pochenden Ohren durch die Vorstadtstraßen torkelte, in denen ich aufgewachsen war. Es war jetzt fast Mitternacht, und abgesehen von vereinzelten Fenstern, aus denen das orangegelbe Licht auf den weißen Rasen fiel, waren die Häuser größtenteils dunkel. Kaum ein Haus in Scarborough glich dem anderen. Es gab große Villen im Tudorstil, schmale, dreistöckige Häuser, einige aus Holz, andere aus rotem Ziegelstein. Es gab kleine Bungalows, gleich nach dem Krieg für die Veteranen erbaut. Das Stück Land, das ich gerade passierte, war früher eine Baustelle und so was wie unser Abenteuerspielplatz gewesen. Jetzt standen dort gepflegte kleine Eigenheime, bewohnt von jungen Familien, Menschen wie Ritchie und Clare. Es stimmte mich irgendwie traurig, dass Ritchie sich anschickte, sein ganzes Leben nur ein paar Hundert Meter von dort zu verbringen, wo er aufgewachsen war. Aber ich nicht. Immerhin hatte ich den Absprung geschafft.
Ich brauchte beinahe eine halbe Stunde für die Viertelmeile vom Haus der Dunlops unweit der Kingston Road zum Haus meiner Eltern unten am See. Das Haus meiner Eltern? Jetzt wohl eher das Haus meines Vaters.
Ich stand unter einem der kahlen Ahornbäume auf der anderen Straßenseite und blickte zu dem großen Haus hinüber, das ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Farbe der grünen Fassade war rissig und blätterte ab. Über dem Wohnzimmerfenster hing ein loses Stück Dachrinne herab. Müllsäcke stapelten sich an der Außenwand. Man konnte bereits sehen, wie sich das Haus verwandelte, widerstrebend aus der Welt meiner Mutter in die meines Vaters hinüberwanderte. Das Windspiel, das sie an der vorderen Veranda aufgehängt hatte, baumelte bewegungs- und geräuschlos in der stillen, eisigen Luft.
Ich sah zum Fenster meines alten Zimmers an der rechten oberen Ecke des Hauses hinauf. Dort drin, vor fast zehn Jahren, hatte ich unter der Bettdecke mit meinem kleinen Plastiktransistorradio entdeckt, dass ich – dank einer atmosphärischen Laune, eines Wunders von Wellenlängen und Elektrizität – WLAC empfangen konnte, einen Radiosender aus Nashville. Sie hatten DJs wie Hoss Allen und John R, die keine Charts-Musik spielten, sondern diese abgefahrenen, schmuddeligen Platten, die man sonst nirgendwo hören konnte: Zeug von Jimmy Reed, Dale Hawkins und Bo Diddley. Diese wilde, schmutzige Musik. »Niggermusik« hatte meine Mutter sie genannt. Platten, die sich aus der Statik der Windungen und Spulen herauskristallisierten. Die aus den pulsierenden Membranen der kleinen, fünf Zentimeter großen Lautsprecher neben meinem Kopf krochen – nach Sex, Gefahr und dem Süden stinkend. Wegen dieser Musik begann man sich zu fragen, wie es da unten so war, wie sich das Leben am anderen Ufer des Ontario-Sees wohl anfühlte. Mit siebzehn war es dann beschlossene Sache: Komme, was wolle, ich würde nach Amerika gehen. Im Prinzip entschied ich mich bloß fürs College, um mir das Flugticket zu sichern. Und damit war ich nicht allein. In den Zimmern Tausender kanadischer Kids spielte sich genau dasselbe ab: bei Robbie Robertson drüben in Cabbagetown, bei Richard oben in Stratford, bei Rick im Tabakgürtel von Simcoe. Sie alle hatten dem knisternden Mittelwellensignal gelauscht und davon geträumt, rauszukommen. Davon, hier wegzukommen.
Lange stand ich da, saugte die klirrend kalte Luft in meine Lungen, und mein Atem stieg in dunstigen Schwaden in die toten Zweige empor. Während mir die eisigen, weißen Flocken ins Haar und ins Gesicht fielen, wo sie tauten, meinen Hals hinabtropften und dann in den Kragen meines Pullovers hineinliefen, erinnerte ich mich an diese Abende, wenn das Brüllen und Zetern so unerträglich wurde, dass meine Mutter zur Haustür hinausflüchtete und ich ihn oben in seinem Zimmer heulen und schreien hörte. Eine halbe oder eine Stunde später kam sie dann zurück, eilte zu ihm rauf, und alles wurde wieder ruhig.
Oben in ihrem – in seinem – Schlafzimmer ging das Licht an, ein Schatten fiel auf die gelbe Tapete. Und noch ehe ich wusste, was ich tat, rannte ich schlitternd und stolpernd im Schneematsch über die Kingston Road. Dann war ich in einer Bar. Danach saß ich im Taxi und fuhr zurück in die Innenstadt.
* * *
Weniger als eine Stunde nachdem ich vor dem Haus meines Vaters gestanden hatte, lag ich mit einem Joint
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