Music from Big Pink: Roman (German Edition)
eigentlich eine billigere und zugleich mächtigere Droge als Musik, fragte ich mich, wo es doch schon reichte, wenn einer von der Heimkehr an einen Ort sang, aus dem er gar nicht stammte, um einen anderen glauben zu lassen, es ziehe ihn an einen Ort zurück, von dem er in Wahrheit so weit wie möglich weg wollte? Draußen rauschten die Wolken vorbei – amerikanischer Himmel, der sich lautlos in kanadischen verwandelte.
sieben
»With my very best friend …«
»Aber manchen von denen, Mann, denen will man einfach nur den Hals umdrehen. Ich sag dir eins, Greg, die Kids heute? Die sind um einiges durchgeknallter, als wir es damals waren. Um einiges.« Ritchie öffnete zwei neue Dosen Black Label. Da dieses einheimische Bier keine Aufreißlasche hatte, musste man einen Öffner benutzen, um damit auf beiden Seiten der Dose ein kleines Dreieck auszustanzen. Das erinnerte mich daran, wie wir als Kinder Bier geklaut hatten. Von Mr. Dunlop, dessen Vorräte nie auszugehen schienen. »Scheiße, tut das gut, dich mal wiederzusehen«, sagte Ritchie zum wiederholten Mal, als wir uns zuprosteten, »fünf verdammte Jahre, Alter!«
Manchmal, etwa wenn er fluchte, klangen bei Ritchie die schottischen Wurzeln durch. Sein Vater hatte die ganze Familie hierhergeholt, 1949, gleich nachdem er die Air Force verlassen hatte. Ritchie war damals erst fünf Jahre alt, er konnte sich kaum noch an Greenock erinnern, das Kaff in Schottland, in dem er aufgewachsen war. Aber wenn Mr. Dunlop davon sprach, dann nannte er es manchmal »dieses Drecksloch«. Er liebte es hier in Kanada. Mr. Dunlop hielt es für das beschissene Paradies. »Ihr Jungs«, pflegte er zu sagen, »ihr wisst ja gar nicht, wie viel Schwein ihr habt.« Es brachte mich zum Lachen, wenn ich sah, wie Mr. Dunlop voller Stolz durch sein Haus patrouillierte und seinen Besitz inspizierte. In Schottland mussten die Häuser ziemlich winzig sein, wenn sein kleines Eigenheim in Scarborough ihm im Vergleich dazu als das Paradies erschien.
An der Haustür begrüßte er mich, als hätten wir uns gerade mal fünf Tage lang nicht mehr gesehen. Mr. Dunlop war eine coole alte Haut: Er stand auf Jazz und Fußball und ließ uns damals im Gegensatz zu allen anderen Eltern sogar in seinem Haus üben. Ich weiß noch, wie er einmal den Kopf durch die Tür steckte, nachdem wir uns gerade mehr schlecht als recht durch einen Song von Chuck Berry gequält hatten – wir waren damals fünfzehn –, und sagte: »Fantastisch, Jungs! Wirklich spitze!« Auch Mrs. Dunlop und Ritchies kleiner Bruder Steven kamen zu mir und sprachen mir ihr Beileid aus. Mrs. Dunlop nahm mich in die Arme und betonte immer wieder, wie »traa-gisch, einfach traa-gisch« der Tod meiner Mutter doch sei.
Ritchie war jetzt richtig erwachsen, er arbeitete als Lehrer an der Highschool. Wir saßen in seiner Bude im Keller, tranken Bier, brachten uns auf den aktuellsten Stand und hörten die neue Dylan-Platte, John Wesley Harding , die vor ein paar Wochen erschienen war. Ritchie hatte sie gerade erst gekauft. Die Platte traf genau meinen Nerv: Sie war so karg, nackt und schmucklos wie die winterlichen Bäume in den Catskills: nur akustische Gitarren, Besenschlagzeug und diese Stimme – sanft, friedlich und vielleicht ein bisschen müde –, die seine schlichten Weisheiten und verzwickten Aphorismen sang. Einige der Worte hätten tatsächlich geradewegs aus der großen Bibel stammen können, die ich in jener Nacht bei ihm im Haus gesehen hatte. Rick hatte mir erzählt, dass Bob die Jungs eigentlich ein paar Overdubs machen lassen wollte, als er mit den Masterbändern aus Nashville zurückkam. Aber Robbie hatte sich die Tracks angehört und ihn davon überzeugt, sie so zu lassen, wie sie waren. Ich spielte mit dem Gedanken, Ritchie davon zu erzählen, wollte aber nicht als Arschloch rüberkommen.
Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen, über das abgenutzte alte Sofa mit der darübergeworfenen Tartandecke, die lindgrünen Teppichfliesen, auf denen man immer noch einen inzwischen verblassten schwarzen Fleck sah, dort wo Ritchie vor fünfzehn Jahren ein Töpfchen Modellbaufarbe runtergefallen war, die kitschigen Souvenir-Untersetzer von den Niagara-Fällen auf dem niedrigen Couchtisch. Ich hatte es hier immer gemocht. »Ich wusste ja nicht mal, ob du immer noch hier wohnst.«
»Ist nur für ein Jahr. Clare und ich sparen für was Eigenes.«
»Wie geht’s ihr?« Ritchie und Clare waren seit der elften Klasse zusammen.
»Gut. Sie
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