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Music from Big Pink: Roman (German Edition)

Music from Big Pink: Roman (German Edition)

Titel: Music from Big Pink: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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im Mund auf einem Kingsize-Bett. Eine Weile sah ich dem Rauch zu, wie er im Schein der einzigen Lichtquelle, einem vor meinem Zimmerfenster flackernden, mintgrünen Holiday-Inn-Schild, kräuselnd zur Zimmerdecke aufstieg. Dann stand ich auf und wählte seine Nummer. Ich sagte ihm, mein Flug habe sich wegen der Schneefälle verzögert. Ich sagte, ich würde einen Flug am nächsten Morgen nehmen und ihn dann wie verabredet sehen. Er nannte mir die Adresse, und ich notierte sie auf einem Hotelbriefbogen.
    Ich legte den Hörer auf und betrachtete das Blatt Papier. Das Holiday Inn war »stolz« , mir den Aufenthalt »so angenehm wie möglich zu machen«. Was für ein Blödsinn. Sie waren nicht einfach nur froh . Oder erfreut . Nein, sie waren stolz , mir in den Arsch kriechen zu dürfen. Also hob ich erneut den Hörer ab, um ihnen die Gelegenheit zu geben. Der Junge, der die Cocktails brachte, war etwa in meinem Alter, weshalb mir sein strahlendes Gesicht, als ich ihm den Zwanziger in die Hemdtasche steckte, besonders viel Freude bereitete.
    »Vielen Dank, Sir.«
    »Nein, ich danke dir, mein Freund.« Nachdem er gegangen war, widmete ich mich dem ersten der drei Long Island Ice Teas, die ich bestellte hatte. Wie aus dem Nichts, von einem Moment auf den anderen, war ich glücklich . Ich fühlte mich, als wäre ich mit etwas davongekommen. Ich fühlte mich wie an einem Samstagmorgen. Wie am letzten Schultag. Ich schaltete das Radio ein, und Dean Martin sang für mich »Little Old Wine Drinker Me« – schmierig, wie einen schmutzigen Witz. Ich drehte lauter und tänzelte singend zum Fenster.
    Ich blickte hinaus auf die Skyline von Toronto. Es hatte aufgehört zu schneien, die Nacht war sternenklar. Überall wurden neue Gebäude hochgezogen. Mann, es sah aus, als wollten sie die Stadt in New York City verwandeln: Drüben, in Richtung Yonge Street, ragten die Stümpfe einiger Wolkenkratzer auf, kahle, stählerne Finger griffen nach dem großen, tief am Himmel stehenden Mond. Ich erinnerte mich an etwas aus meiner Kindheit. Jemand erzählte mir, wie lang die Yonge Street sei: »… die längste Straße auf der ganzen weiten Welt.«
    Auf der Suche nach etwas Rock ’n’ Roll wechselte ich den Sender, als ich die Ansage eines DJs hörte: »Und jetzt: die Nummer eins in Kanada!« Dann tönte »She’s A Rainbow« von den Stones durch die geschmacklose kleine Suite. Mit einem albernen Jagger-Sprung kippte ich den Rest des Cocktails hinunter, griff nach dem nächsten und verschüttete einen Teil davon.
    Sie hielt meine Hand, ermahnte mich, vorsichtig zu sein und ganz nah bei ihr zu bleiben, weil die Straße so groß sei und ich mich verlaufen könne.
    Der Stones-Song war zu Ende. Der DJ laberte nur Müll, also zündete ich mir den Joint wieder an und drehte erneut am Sendersuchlauf – in der Hoffnung, etwas Lautes und Hartes zu finden. Erst kam nur statisches Knistern, dann heulte Jim Morrison »Love Me Two Times«, aber die Nummer war so gut wie zu Ende, weshalb ich weitersuchte: Knistern, Talkshows, Werbung …
    Dann hob sie mich hoch und trug mich, wegen des vielen Verkehrs, denn ich war ja erst fünf oder sechs, und sie war besorgt, ich könnte niedergetrampelt werden.
    Die Stone Poneys durchschnitten das Rauschen mit »Different Drum« – »You and I marched to the beat of a different drum« –, die Stimme des Mädchens klang so klar und direkt, dass ich zu tanzen aufhörte. Ich stand da, blickte zum Fenster hinaus und erinnerte mich.
    Der Geruch ihres Haars und der Pelz ihres Wintermantels, der mir sanft über die Wange strich, als sie mich trug, und ich konnte über die Köpfe der Leute hinwegsehen, die ganze Yonge Street hinunter. Ich staunte, das sei aber eine große Straße, und meine Mutter sagte: »Da hast du recht, mein Schatz, es ist die längste Straße auf der ganzen weiten Welt«, und sie küsste mich auf die Nasenspitze.
    Ich wollte mich nicht erinnern, aber ich konnte nichts dagegen tun. Also stand ich eine ganze Weile am Fenster und dachte an meine Mutter, statt meinen dämlichen Cocktail zu trinken, während im Hintergrund die Stone Poneys liefen.
    * * *
    Ich war einer der Ersten und ließ den Taxifahrer auf der anderen Straßenseite halten. Von dort aus konnte ich beobachten, wie sich die Leute vor dem Beerdigungsinstitut versammelten. Viele waren es nicht: Mein Vater hatte es geschafft, den gemeinsamen Freundeskreis über die Jahre auf weniger als eine Handvoll Menschen zurechtzustutzen. Da waren Mrs.

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