Music from Big Pink: Roman (German Edition)
die schon bald alle mitsingen würden und von der wir vermuteten, dass sie eine von denen war, die Dylan ihnen gegeben hatte. Nachdem das Album zu Ende war, sahen wir uns bloß für eine Sekunde an, bevor ich es erneut umdrehte, um es noch einmal abzuspielen.
Als Richard früher am Tag zur Küchentür hinausspazierte, war er einfach nur Richard gewesen: der witzige, nervöse, schüchterne, melancholische, liebenswürdige Richard. Jetzt aber war mir klar, wirklich klar, dass Menschen wie Richard – und auch Rick, Levon, Robbie und Garth – aus einem völlig anderen Holz geschnitzt waren als ich. Angesichts dieser Musik fühlte ich mich, als wäre ich zwölf Jahre alt, als hätte ich nicht den blassesten Schimmer von Musik, als hätte ich noch nie in meinem Leben eine Gitarre in der Hand gehalten. Der Platte lagen weder Tracklisting noch Credits bei, also wussten wir nicht, wer was geschrieben hatte. Allerdings sang Richard ein Stück, von dem ich mir sicher war, dass es nur aus seiner Feder stammen konnte – eine sanfte, verträumte Ballade, in der folgende Zeilen vorkamen:
»Once I climbed up the face of a mountain,
and ate the wild fruit there.«
Ich musste sofort an den vergangenen Sommer denken, als wir draußen hinter dem pinkfarbenen Haus abhingen, Speed und Trips einwarfen, tranken und zusahen, wie die Sonne hinter dem Overlook Mountain aufging. Als ich jetzt hier vor den Boxen saß, kam es mir vor, als hätte ich aus diesen Nächten nur ein paar richtig üble Kater und vielleicht ein bisschen Knete mitgenommen. Offenbar ganz im Gegensatz zu Richard – dieser Song war einfach unfassbar, geschaffen für die Ewigkeit. Allein schon der Sound: smooth und funky, wie etwas noch nie Dagewesenes, und zugleich uralt , älter als die Holzfassaden von West Hurley, die auf dem Grund des Ashokan vor sich hin moderten. Bei einigen der Tracks war Richards Stimme richtig schwere Kost. Es lag an der Art, wie sie aufgenommen war. Bis zum Anschlag hochgeregelt, thronte sie nackt und brutal über allem anderen. Es war schon fast zu viel des Guten.
Nach dem zweiten Durchlauf der Platte stand Alex auf und streckte sich. »Wow«, sagte er, »das war ja der absolute Hammer, was?« Ich schwieg. Ich konnte nicht sprechen. Er griff sich sein Handtuch von der Sofalehne. »Lass uns gehen, bevor die Sonne weg ist.«
»Geh du ruhig schon vor. Ich würde das Album gerne noch mal hören.«
Er blickte mich an, als wäre ich nicht ganz dicht, angelte sich den Autoschlüssel aus der Holzschüssel auf dem Couchtisch und ging.
Überrascht stellte ich fest, dass ich immer noch einen halb abgebrannten Joint in der linken Hand hielt. Ich zündete ihn an, zog daran, bis mir die Lunge zu platzen drohte, drehte die schwere Platte zum dritten Mal um und riss den Lautstärkeregler so weit auf, wie es ging, ohne den Klang zu verzerren. Es knisterte, dann tastete sich Robbies Gitarre in die Stille, irgendwie fremdartig, der Groove träger als ein Mathematikkurs, zugleich wärmer als Heroin. Da war eine Zeile im ersten Song, die ich unbedingt noch einmal hören wollte, eine Zeile, die mir mit jedem Hören immer näher ging: »What dear daughter … could treat a father so.« Mir wurde klar, dass da ein Vater davon sprach, betrogen und vom eigenen Kind im Stich gelassen worden zu sein. Diese ganze »Fuck you Mom and Dad«-Nummer, wie Jim Morrison sie abzog, war für’n Arsch. Dass wir überhaupt hier waren, hatten wir auf die eine oder andere Art der Liebe unserer Eltern zu verdanken, und wenn dann zwischen ihnen alles in die Binsen ging, hatten wir plötzlich nichts Besseres zu tun, als sie dafür zu hassen. Dabei kann man ihnen nicht mehr Vorwürfe machen als jemandem, der es nicht schafft, einen Song zu vollenden. Ich dachte daran, meine Mom anzurufen und ihr zu sagen, wie leid es mir tat. Dass es nicht ihr Fehler war, dass mein Vater ein Junkie war. Dass ich nicht wusste, wem ich die Schuld geben sollte. Aber sie würde nicht mehr ans Telefon gehen. Sie war bloß noch Staub und winzige Stücke verkohlter Knochen in einer silbernen Urne bei uns zu Hause im Keller.
Ich hatte es versaut, Mann – und nicht bloß ein bisschen. Ich rollte mich auf dem Teppich zu einem Knäuel zusammen und heulte wie ein Schlosshund, während mein Freund Richard immer und immer wieder die Worte »Tears of rage, tears of grief …« sang.
Als ich aufwachte, wurde es draußen bereits dunkel. Durch die noch immer geöffneten Fenster wehte sanft die Bergluft herein.
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