Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
veränderte, habe er auch selbst bemerkt: »Plötzlich fuhr ich auf der rechten Spur der Autobahn, brauchte kein Radio und war eigentlich ganz glücklich mit mir.«
Woher rührt dieses Glücksgefühl? Und wie lässt sich erklären, dass selbst ein Erfolgsmensch wie Singer – der zu den angesehensten Wissenschaftlern in Deutschland zählt, glücklich verheiratet und Vater zweier erfolgreicher Töchter ist und so gut wie alles erreicht hat, was man gemeinhin als erstrebenswert ansieht – ausgerechnet beim schweigenden Vor-der-Wand-Sitzen sein Glück findet? Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der meditativen Erfahrung, dass man ihre Wirkungen eigentlich nur demjenigen richtig verständlich machen kann, der diese Erfahrung selbst gemacht hat. Versucht man sie anderen zu erklären, kämpft man mit ähnlichen Schwierigkeiten wie ein Maler, der Farbenblinden seine Bilder erläutern will – auch wenn er noch so viele Worte macht, wird er meist auf Unverständnis stoßen.
Obendrein ist der Begriff der Meditation mittlerweile mit Klischees und Vorurteilen beladen. Eines davon lautet zum Beispiel, Meditation habe zwangsläufig mit fernöstlichen Religionen zu tun und wer meditiere, sei demnach Buddhist oder Hinduist. Ein anderes Vorurteil besteht in der Ansicht, Meditieren sei etwas höchst Kompliziertes, weil es ein schmerzhaftes Verknoten der Beine oder andere bizarre Körperhaltungen erfordere. Außerdem gibt es inzwischen eine unüberschaubare Vielzahl verschiedener Meditationsschulen, die alle ihre eigenen Rituale und Praktiken pflegen, was den Eindruck erweckt, Meditation sei eine schwer zu erlernende Kunst, die nur von ausgewiesenen Fachleuten vermittelt werden könne.
In Wahrheit ist das Grundprinzip der Meditation kinderleicht: sich vollständig auf das konzentrieren, was man aktuell tut – und diese Erfahrung immer von Neuem wiederholen. Denn Meditation ist letztlich nicht eine Frage der jeweiligen Tätigkeit, sondern der geistigen Einstellung. Von einem »Geistestraining« spricht etwa der Dalai Lama und verweist darauf, dass der ursprüngliche Sanskritausdruck bhavana , der im Deutschen mit »Meditation« übersetzt wird, so viel wie »Pflege einer Gewohnheit« bedeutet und dass der entsprechende tibetische Begriff gom wiederum »vertraut werden« heißt. Meditation, so definiert daher der Dalai Lama, sei letztlich nichts anderes als »eine disziplinierte Geistespraxis, in der man die Vertrautheit mit einem bestimmten Gegenstand pflegt, der sowohl ein äußeres Objekt als auch eine innere Erfahrung sein kann«. 44
Demnach hängt das Prinzip der Meditation also gar nicht von einem bestimmten religiösen Kontext ab. Auch das Christentum kennt eine Vielzahl meditativer Praktiken – stilles Sitzen, Beten, Fasten, Singen oder Pilgern -, die allmählich wiederentdeckt werden. Und recht betrachtet frönt sogar mein Pilze sammelnder Kollege der Meditation – vorausgesetzt, er denkt dabei wirklich nur an seine Pilze und wälzt nicht etwa Arbeitssorgen. Ja, selbst der Bergauf-Marathon unseres Schweiz-Redakteurs kann eine meditative Praxis sein – wenn er dabei im richtigen Geiste schwitzt.
»Alles automatisierte Tun birgt bei richtiger Einstellung die Möglichkeit, den Menschen an sein tiefstes Wesen heranzubringen«, schrieb der (1988 verstorbene) Psychotherapeut und Zen-Lehrer Karlfried Graf Dürckheim. 45 »Damit etwas religiöse Bedeutung gewinnen kann, müssen nur zwei Bedingungen erfüllt sein: Es muss einfach sein und wiederholbar.« Dürckheim, der in Japan den Zen-Buddhismus kennengelernt hatte und diese Erfahrung mit der christlichen Kultur Europas zu verbinden suchte, betonte, dass die Erfahrung der Transzendenz im Prinzip in jeder Tätigkeit möglich sei – im meditativen Sitzen ebenso wie im bewussten Atmen, im Bogenschießen ebenso wie in bestimmten Formen des Tanzens, Singens oder Malens. Wichtig sei dabei zunächst, eine Technik bis zur völligen Beherrschung zu erlernen, bis sie automatisch zur Verfügung steht. Dann nämlich könne man »das kleine Ich«, das stets »um das Gelingen besorgt ist und das Misslingen fürchtet« loslassen. So werde der Übende »durchlässig« für das »in seinem Wesen anwesende Sein« und könne die Erfahrung einer tieferen Kraft machen, »die nun ohne sein Zutun durch ihn hindurch die Leistung vollbringt«.
Was Dürckheim da auf etwas verschraubte Weise ausdrückt, klingt geradezu märchenhaft – träumt nicht jeder davon, seine Leistungen »ohne eigenes
Weitere Kostenlose Bücher