Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
Mußestunden bilden: Der »Tätigkeitsrausch« stellt sich am ehesten dann ein, wenn ablenkende Störelemente beseitigt sind (wir also Herren über unsere Zeit sind), wenn man sich ganz auf sein Tun konzentriert und dieses seinen Wert in sich selbst trägt.
Vor allem aber sollte man sich Herausforderungen suchen, die zwar unsere gesamte Konzentration beanspruchen, die aber gerade noch zu bewältigen sind – also Tätigkeiten, die uns weder überfordern noch langweilen. Wer als untrainierter Städter meint, das Matterhorn besteigen zu müssen, wird ebenso wenig Flow erleben wie der viel beschäftigte Manager, der im Urlaub von einem Tag zum anderen auf Nichtstun umschalten will. Für beides ist eine gewisse Übung notwendig. Mit anderen Worten: Glück ist ein Zustand, den man auch kultivieren muss.
Ironischerweise fällt uns diese Kultivierung des Glücks bei der Arbeit häufig leichter als in der Freizeit. Denn nahezu jede Arbeit weist jene Merkmale auf, die auch Flow -Aktivitäten kennzeichnen: eingebaute Ziele, Rückmeldungen, Regeln und Herausforderungen, die uns helfen, uns ganz auf die zu bewältigende Aufgabe zu fokussieren. Die Freizeit dagegen ist unstrukturiert und daher sehr viel schwerer zu gestalten. Und so stellt sich häufig die paradoxe Situation ein, dass man sich zwar danach sehnt, seinen Arbeitsplatz zu verlassen und nach Hause zu eilen, dort aber oft nichts Rechtes mit sich anzufangen weiß und sich langweilt.
Um die Lücke zu füllen, steht heute eine gewaltige Freizeitindustrie bereit. Allerdings bietet sie oft nur passive Erlebnisse, die uns zwar unterhalten, aber nicht wirklich in Flow bringen. Statt selbst Sport zu treiben, lassen wir uns von Fussballspielen im Fernsehen amüsieren, statt zu musizieren, lauschen wir den Hits auf unserem iPod und in Ermangelung eigener Abenteuer gehen wir ins Kino und sehen Schauspielern zu, die so tun , als ob sie abenteuerliche Situationen erlebten. Dabei erscheinen uns die Geschehnisse auf der Leinwand oft so viel aufregender, farbiger und professioneller als unsere eigenen Bemühungen, dass wir erst recht die Lust verlieren, aktiv zu werden. w
Wer also seine Muße genießen will, tut gut daran, sich nicht zu sehr mit anderen zu vergleichen, sondern den Blick auf die eigenen Möglichkeiten zu richten. Wagen wir es, unser Leben (auch unsere Freizeit) selbst in die Hand nehmen und uns eigene Herausforderungen zu suchen.
Wer angesichts des Wortes »Herausforderung« nun allerdings umgehend an Himalayaexpeditionen, Marathonläufe, ausschweifende Abende im Casino oder Ähnliches denkt, dem sei an dieser Stelle der Gedanke ans Herz gelegt, dass die größten Abenteuer mitunter in den eigenen vier Wänden lauern.
Denn das Zuhause ist der wahre Hort der Anarchie, »der einzige Fleck auf der Welt, wo ein Mensch ganz plötzlich die gewohnte Ordnung ändern kann, ein Experiment anstellen oder eine Laune ausleben«, wie schon der britische Schriftsteller Gilbert K. Chesterton (1874 -1936) erkannte. Überall sonst müsse man sich strikten Regeln beugen; im Theater dürfe man nicht rauchen, im Hotel müsse man sich zum Essen umziehen, und im Varieté sei es untersagt, mitzusingen. Das Zuhause dagegen sei »der einzige wilde Ort in der Welt der Regeln und festen Pflichten«, schrieb Chesterton. Hier könne man »den Teppich an die Decke nageln und den Fussboden mit Dachziegeln belegen«, oder, wenn einem danach sei, »seine Mahlzeiten auf dem Fußboden zu sich nehmen«, was er selbst gerne tue und was zu einer »seltsamen, kindischen, poetischen Picknickstimmung« führe. 25
Natürlich wollte Chesterton uns damit nicht in erster Linie auf den Wert eines eigenen Heims aufmerksam machen, sondern uns dazu animieren, unsere üblichen (Denk-)Gewohnheiten hinter uns zu lassen. Und statt die Herausforderungen immer nur im Draußen zu suchen, in der Begegnung mit fremden Kulturen, Essgewohnheiten oder Durchfallerkrankungen, sollten wir unseren Blick auch einmal auf jene Abenteuer richten, die in unserer gewohnten Umgebung lauern.
Setzen Sie doch zum Beispiel einmal Ihre eingeschliffenen Zeitkonventionen außer Kraft und planen Sie ein »brasilianisches« Wochenende: Verstecken Sie am Vorabend alle Uhren oder drehen Sie die Ziffernblätter um. Lassen Sie keine Zeitschrift herumliegen, die jünger ist als ein Jahr, und setzen Sie den Fernseher außer Betrieb. Laden Sie Freunde ein, ohne ihnen eine Uhrzeit zu nennen (»Kommt einfach, wann es Euch passt«), und lassen Sie
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