Muster - Steffen-Buch
bedacht, ihren Ruf als Anführerin einer kleinen Mädchenbande zu verteidigen. Neben ihrem Zeitvertreib, mich zu quälen, schien es für Aggie und ihre Clique das Hauptziel im Leben zu sein, ihre modischen Kleider zur Schau zu stellen. Ich hatte immer 79
gewusst, dass Aggie mich nicht mochte, aber ich begriff erst am letzten Schultag des vierten Schuljahres, wie groß ihre Abneigung war. Aggies Mutter war meine Klassenlehrerin, und am letzten Schultag kam Aggie in unser Klassenzimmer. Sie tat so, als müsste sie sich gleich übergeben, und sagte: »Ich muss gleich kotzen. David Pelzer-Smellzer geht nächstes Jahr in meine Klasse.« Vor ihren Freunden über mich herzu-ziehen bereitete ihr offensichtlich Vergnügen.
Ich nahm Aggie nicht allzu ernst, bis unsere Klasse am Wandertag einen Ausflug zu einem Klipper im Hafen von San Francisco machte.
Als ich allein am Bug des Schiffes stand und ins Wasser blickte, kam Aggie mit einem boshaften Lächeln auf mich zu und sagte leise:
»Spring!« Ich wusste nicht, wie ich das verstehen sollte, und schaute sie verwirrt an. Leise und vollkommen ruhig wiederholte sie: »Ich hab gesagt, du sollst springen. Ich weiß alles über dich, Pelzer, und zu springen ist dein einziger Ausweg.«
Hinter ihr erklang eine andere Stimme: »Genau, das find ich auch.«
Es war die Stimme von John, eines anderen Klassenkameraden, der einer von Aggies Macho-Kumpeln war. Über die Reling hinweg starrte ich in das kalte grüne Wasser, das gegen die Holzwand des Schiffes schlug. Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, wie ich in das Wasser eintauchte und ertrank. Es war ein tröstlicher Gedanke, Aggie, ihren Freunden und allem, was ich auf der Welt hasste, durch einen Sprung in den Tod entfliehen zu können. Doch ich kam wieder zur Vernunft. Ich fixierte John mit meinem Blick und versuchte, die Augen nicht ab-zuwenden. Nach ein paar Augenblicken muss er meine Wut gespürt haben, denn er wandte sich ab und zog Aggie mit sich.
Zu Beginn des fünften Schuljahres bekam ich einen neuen Klassenlehrer, Mr. Ziegler. Er hatte keine Ahnung, warum ich so ein Problemkind war, doch nachdem die Schulkrankenschwester ihm erklärt hatte, aus welchem Grund ich Essen gestohlen hatte und warum ich so un-möglich gekleidet war, gab er sich alle Mühe, mich so zu behandeln, als sei ich ein ganz normales Kind. Eine seiner Aufgaben als Betreuer der Schülerzeitung bestand darin, ein Komitee von Kindern zu bilden, die sich einen geeigneten Titel dafür ausdenken sollten. Ich machte einen guten Vorschlag, der in die Auswahlliste aufgenommen wurde und eine Woche später in einer Abstimmung, an der alle Schüler unserer Schule teilnahmen, mit großer Mehrheit angenommen wurde. Nach der Be-kanntgabe des Wahlergebnisses nahm mich Mr. Ziegler beiseite und 80
sagte mir, wie stolz er sei, dass mein Titel gewonnen hatte. Ich saugte das Lob auf wie ein Schwamm. Man hatte so lange nichts Positives mehr zu mir gesagt, dass ich um ein Haar anfing zu weinen. Am Ende des Tages gab mir Mr. Ziegler einen Brief für Mutter, nachdem er mir versichert hatte, dass alles in bester Ordnung sei.
In Hochstimmung rannte ich schneller als je zuvor zu Mutters Haus.
Ich hätte eigentlich wissen sollen, dass mein Glück von kurzer Dauer war. Die Hexe riss den Brief auf, las ihn schnell und blaffte: »Tja, Mr.
Ziegler schreibt, dass ich sehr stolz auf dich sein kann, weil du dir einen Namen für die Schülerzeitung ausgedacht hast. Er behauptet auch, dass du einer der besten Schüler in seiner Klasse bist. Na, dann bist du ja was ganz Besonderes.« Plötzlich wurde ihre Stimme eiskalt. Sie bohrte mir den Zeigefinger ins Gesicht und zischte: »Damit eins ganz klar ist, du kleiner Mistkerl, es gibt nichts, womit du mich beeindrucken kannst!
Hast du mich verstanden? Du bist ein Niemand! Ein Nichts! Du exi-stierst nicht! Du bist ein Bastard! Ich hasse dich und ich wünschte, du wärst tot! Hast du gehört? Tot!«
Nachdem Mutter den Brief in tausend kleine Fetzen zerrissen hatte, kehrte sie mir den Rücken und wandte sich wieder ihrer TV-Show zu.
Ich stand regungslos da und starrte auf die Fetzen, die mir wie Schneeflocken zu Füßen lagen. Auch wenn sie mir damit nichts Neues sagte, trafen mich ihre Worte diesmal härter als je zuvor. Mutter hatte mich meiner Existenz beraubt. Ich gab alles, was in meiner Macht stand, um irgendetwas Positives zu vollbringen, damit sie mich anerkannte. Doch ich hatte wieder versagt. Mir wurde das Herz so schwer
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