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Muster - Steffen-Buch

Muster - Steffen-Buch

Titel: Muster - Steffen-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raidy
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Auch an seinem Arbeitsplatz war er nicht vor ihr sicher. Sie rief ihn oft in der Feuerwache an und beschimpfte ihn. »Versager« und »versoffener Schlappschwanz« waren zwei ihrer Lieblings-bezeichnungen für ihn. Nachdem sie das ein paar Mal gemacht hatte, legte der Feuerwehrmann, der den Hörer abhob, einfach auf, anstatt sie zu Vater durchzustellen. Das machte Mutter fuchsteufelswild und wieder hatte ich unter ihrer Wut zu leiden.
    Für eine Weile verbannte Mutter Vater aus dem Haus, und wir sahen ihn nur, wenn wir nach San Francisco fuhren, um seinen Gehalts-scheck abzuholen. Einmal fuhren wir auf dem Weg dorthin durch den Golden Gate Park. Wenngleich meine Hassgefühle immer präsent waren, weckte der Park in mir Erinnerungen an die guten Zeiten, in denen er der ganzen Familie so viel bedeutet hatte. Auch meine Brüder waren an dem Tag, an dem wir durch ihn hindurchfuhren, ganz in sich gekehrt. Alle schienen zu spüren, dass der Park irgendwie seinen Charme verloren hatte und dass es nie wieder so sein würde wie früher. Ich glaube, meine Brüder hatten auch das Gefühl, dass die guten Zeiten für sie vorbei waren.
    Für kurze Zeit änderte sich Mutters Verhalten gegenüber Vater. An einem Sonntag packte sie uns alle ins Auto und fuhr von einem Geschäft zum anderen, um nach einer Schallplatte mit deutschen Liedern zu suchen. Sie wollte für seinen Besuch zu Hause eine spezielle Atmo-sphäre schaffen. Einen Großteil des Nachmittags verbrachte sie damit, ein Festmahl zuzubereiten, und legte dabei den gleichen Enthusiasmus an den Tag wie in den früheren Jahren. Sie verwandte Stunden darauf, sich zu frisieren und zu schminken, zog sogar ein Kleid an, das Erinnerungen an die Person heraufbeschwor, die sie einmal gewesen war.
    Gott schien meine Gebete erhört zu haben. Während sie durch das Haus eilte und alles zurechtrückte, was sich ihrer Meinung nach nicht am rechten Platz befand, konnte ich an nichts anderes denken als an das 85

    Essen. Ich hoffte inständig, dass sie das Herz haben würde, mich mit der Familie essen zu lassen. Doch meine Hoffnung war vergebens.
    Es wurde später und später. Vater hatte eigentlich um ein Uhr zu Hause sein wollen, und jedes Mal, wenn Mutter ein Auto kommen hörte, stürmte sie zur Haustür, um ihn mit offenen Armen zu empfangen. Irgendwann nach vier Uhr nachmittags wankte Vater schließ-
    lich mit einem befreundeten Kollegen herein. Die freundliche Atmo-sphäre und das Festmahl überraschten ihn sichtlich. Vom Schlafzimmer aus konnte ich Mutters verhaltene Stimme hören; sie bemühte sich sehr, geduldig mit Vater zu sein. Ein paar Minuten später stolperte Vater ins Schlafzimmer. Ich sah verwundert auf. Ich hatte ihn noch nie so betrunken gesehen. Er brauchte mich nicht anzuhauchen, ich roch seine Schnapsfahne auch so. Seine Augen waren glasig, und er hatte Mühe, gerade zu stehen und die Augen offen zu halten. Noch ehe er die Schranktür öffnete, wusste ich, was er tun würde. Ich wusste, warum er nach Hause gekommen war. Als er seine blaue Reisetasche vollstopfte, begann ich innerlich zu weinen. Ich wollte mich so klein machen, dass ich in seine Tasche passte und mich mit ihm wegstehlen konnte.
    Nachdem er alles eingepackt hatte, beugte sich Vater zu mir hinunter und lallte etwas. Je länger ich ihn ansah, desto mehr verlor ich den Boden unter den Füßen. Mir schwirrte der Kopf. Wo ist mein Held hin? Was ist mit ihm geschehen? Als er die Tür öffnete, um das Zimmer zu verlassen, knallte sein betrunkener Freund gegen ihn und warf ihn fast um. Vater schüttelte den Kopf und sagte mit trauriger Stimme: »Ich kann es nicht mehr ertragen. Das Ganze. Deine Mutter, dieses Haus, dich. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen.« Ehe er die Schlafzim-mertür schloss, murmelte er kaum verständlich: »Es... es... tut mir Leid.«
    In diesem Jahr war das Abendessen zum Erntedankfest ein Flop.
    Vater machte eine seiner Stippvisiten und nahm daran teil. Aus einer Anwandlung heraus erlaubte Mutter es mir, mit der Familie am Tisch zu essen. Ich saß stocksteif auf dem Stuhl und konzentrierte mich darauf, nichts zu sagen oder zu tun, was Mutter auf die Palme bringen konnte. Ich spürte die Spannung zwischen meinen Eltern. Sie sprachen kaum miteinander, und auch meine Brüder kauten stumm. Kaum war das Abendessen vorbei, kam es zu heftigen Wortgefechten, nach denen Vater wieder einmal das Haus verließ. Mutter holte eine Flasche Schnaps aus dem Schrank und setzte sich aufs Sofa, um sich

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