Muster - Steffen-Buch
wie noch nie.
Es war nicht der Alkohol, der für Mutters Worte verantwortlich war.
Sie hatte aus tiefstem Herzen gesprochen. Ich wäre erleichtert gewesen, wenn sie nach einem Messer gegriffen und allem ein Ende gemacht hätte.
Ich hockte mich hin, um die vielen Brieffetzen wieder zusammen-zusetzen. Es war unmöglich. Ich warf sie in den Mülleimer und wünschte mir, ich wäre tot. Ich glaubte in diesem Augenblick wirklich, dass es besser für mich wäre, tot zu sein, als weiter vergeblich auf irgendeine Art von Glück zu hoffen. Ich war ein »Nichts«.
Meine Stimmung war auf dem Nullpunkt angelangt, und ich hoffte auf selbstzerstörerische Weise, dass Mutter mich töten würde. Ich hatte auch das Gefühl, dass sie es letzten Endes tun würde. Nach meinem Empfinden war es nur noch eine Frage der Zeit, bis es soweit war. Also 81
begann ich, sie absichtlich zu reizen, in der Hoffnung, dass ich sie derart provozieren konnte, dass sie meinem Elend ein Ende machte. Ich schlampte bei meiner Hausarbeit. Ich »vergaß«, den Badezimmerboden trocken zu wischen, und hoffte, dass Mutter oder eines ihrer Königs-kinder auf den harten Fliesen ausrutschen und sich verletzen würde.
Wenn ich abends den Abwasch machte, wurden die Teller nicht sauber.
Ich wollte, dass die Hexe wusste, dass mir alles egal war.
Ich wurde immer rebellischer. Eines Tages trieb ich es im Super-markt besonders weit. Gewöhnlich blieb ich im Auto, wenn wir einkaufen gingen, aber aus irgendeinem Grund beschloss Mutter, mich in den Laden mitzunehmen. Sie befahl mir, mit einer Hand den Einkaufs-wagen zu umklammern und mit gesenktem Kopf durch den Laden zu gehen. Ich missachtete absichtlich all ihre Befehle. Ich wusste, dass sie in der Öffentlichkeit keine Szene machen wollte. Also ging ich vor dem Wagen her und achtete darauf, dass ich nicht in ihrer Reichweite war.
Wenn meine Brüder irgendwelche Kommentare von sich gaben, schlug ich mit den gleichen Waffen zurück. Ich sagte mir einfach, dass ich mir von niemand mehr etwas gefallen lassen würde.
Mutter wusste, dass andere Kunden uns beobachteten und uns hören konnten. Deshalb fasste sie mich mehrmals behutsam am Arm und sagte mir freundlich, dass ich mich wieder beruhigen solle. Ich fühlte mich so lebendig in dem Bewusstsein, die Oberhand zu haben, aber ich wusste, dass ich dafür bezahlen würde, wenn wir wieder aus dem Laden heraus waren. Wie ich es mir gedacht hatte, verpasste mir Mutter eine gehörige Tracht Prügel, noch ehe wir den Kombi erreichten. Sobald wir im Auto waren, befahl sie mir, mich vor dem Rücksitz auf den Boden zu legen, wo meine Brüder als Strafe dafür, dass ich ihnen und Mutter gegenüber pampig geworden war, mit den Füßen auf mir herumtram-pelten. Als wir zu Hause waren, bereitete Mutter sofort ihre Spezial-mischung mit Salmiakgeist und Clorox zu. Sie musste den Verdacht gehegt haben, dass ich den Wischlappen als Mundschutz verwendete, weil sie ihn in den Eimer warf. Sobald sie die Badezimmertür zuge-schlagen hatte, stürzte ich zum Heizlüfter. Er ging nicht an. Es kam keine Frischluft heraus. Ich muss über eine Stunde im Badezimmer eingesperrt gewesen sein, denn die grauen Dämpfe füllten den kleinen Raum schließlich bis zum Boden aus. Meine Augen tränten, und ich hatte das Gefühl, dass es dadurch nur noch schlimmer wurde. Ich spuckte und rang nach Atem, bis ich dachte, dass ich ohnmächtig wer-82
den würde. Als Mutter schließlich die Tür öffnete, wollte ich aus dem Badezimmer stürmen, aber sie packte mich im Nacken. Sie versuchte, mich mit dem Gesicht in den Eimer zu stoßen. Doch ich wehrte mich und es gelang ihr nicht. Mein Plan, durch Rebellion etwas zu erreichen, war jedoch auch zum Scheitern verurteilt. Mit ihrer Spezialbehandlung in der »Gaskammer« trieb Mutter mir meine Auflehnung gründlich aus, aber tief in meinem Inneren konnte ich immer noch spüren, wie der Druck anschwoll und nur darauf wartete, sich vulkanartig zu entladen.
Das Einzige, was mich noch bei Verstand hielt, war mein kleiner Bruder Kevin. Er war ein hübsches Baby, und ich liebte ihn, aber über ihn gibt es auch eine traurige Geschichte: Ungefähr drei Monate vor seiner Geburt erlaubte Mutter mir, einen Zeichentrickfilm anzuschauen.
Als der Film vorbei war, befahl sie mir aus unerfindlichen Gründen, mich in das Kinderzimmer meiner Brüder zu setzen. Minuten später stürmte sie ins Zimmer, legte mir die Hände um den Hals und drückte zu. Ich warf den Kopf von einer
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