Muster - Steffen-Buch
unempfindlich gemacht. Wann immer Mutter mich schlug, war es so, als würde sie ihre Aggressionen an einer Flickenpuppe auslassen. Innerlich war ich zerrissen; meine Gefühle schwankten zwischen Angst und extremer Wut. Doch nach außen hin war ich ein Roboter. Ich zeigte meine Gefühle selten und nur, wenn ich dachte, dass es der Hexe gefallen und mir etwas nützen würde. Ich schluckte meine Tränen hinunter, weil ich ihr nicht die Befriedigung verschaffen wollte, dass ich zu Kreuze kroch.
Nachts träumte ich nicht mehr, meine Traumphasen waren wie ausgelöscht, und tagsüber hing ich auch keinen Tagträumen mehr nach.
Die lebhaften Phantasiereisen, auf denen ich in farbenfrohen Kostümen durch die Lüfte flog, gehörten jetzt der Vergangenheit an. Wenn ich einschlief, fiel ich in ein tiefes, schwarzes Loch. Ich wachte morgens auch nicht mehr erfrischt auf. Ich war müde und hakte einen Tag auf dieser erbärmlichen Welt nach dem anderen einfach nur noch ab. Ich schleppte mich durch meine Hausarbeit und hasste jeden Augenblick jedes einzelnen Tages. Meiner Träume beraubt, fand ich, dass Worte wie Hoffnung und Glauben nur aus zufällig zusammengesetzten Buch-staben bestanden, die keinen Sinn ergaben - für mich waren es Worte, die nur in Märchen existierten.
Wenn mir der Luxus vergönnt war, etwas zu essen zu bekommen, aß ich wie ein streunender Hund und schmatzte und grunzte wie ein Schwein. Es kümmerte mich nicht mehr, wenn sie sich darüber lustig machte, dass ich mich beeilte, selbst den kleinsten Krümel hinunter-zuschlingen. Ich hatte jede Selbstachtung verloren. An einem Samstag 76
schabte Mutter ein paar halb gegessene Pancakes von einem Teller in den Hundenapf. Ihre wohlgenährten Hunde knabberten daran herum, bis sie nichts mehr wollten, und suchten sich dann einen Platz zum Schlafen. Als ich später ein paar Töpfe und Pfannen in einen Unter-schrank stellte, kroch ich auf allen vieren zum Hundenapf und aß die Reste auf. Sie schmeckten und rochen inzwischen nach Hund, aber ich aß sie trotzdem. Es störte mich kaum. Mir war vollkommen klar, dass ich bitter dafür bezahlen würde, wenn die Hexe mich dabei erwischte, dass ich aß, was rechtmäßig den Hunden zustand. Mir auf jede erdenkliche Weise Essen zu beschaffen, war jedoch meine einzige Möglichkeit zu überleben.
Ich war vollkommen verbittert und hasste einfach alles. Ich ver-abscheute sogar die Sonne, weil ich wusste, dass es mir nie vergönnt sein würde, in ihrem warmen Licht zu spielen. Ich verspürte blanken Hass, wann immer ich andere Kinder lachen hörte, während sie im Freien spielten. Mein Magen krampfte sich zusammen, wann immer mir Gerüche von Speisen in die Nase stiegen, die jemand anderem serviert wurden, denn ich wusste, dass ich nichts bekam. Jedes Mal, wenn Mutter mich hochrief, weil es Zeit für meine Rolle als Familiensklave war und ich den anderen hinterherwischen sollte, sehnte ich mich danach, auf etwas einschlagen zu können.
Am meisten hasste ich Mutter, und ich wünschte mir, sie wäre tot.
Doch ehe sie starb, sollte sie all den Schmerz und die Einsamkeit, die ich während all dieser Jahre durchlitten hatte, am eigenen Leib erfahren. In all den Jahren, in denen ich zu Gott betete, hat er mich nur einmal erhört. Eines Tages, als ich fünf oder sechs Jahre alt war, jagte Mutter mich von einem Ende des Hauses zum anderen. Am Abend kniete ich vor dem Zubettgehen nieder und betete zu Gott. Ich bat ihn, dafür zu sorgen, dass Mutter krank würde, damit sie mich nicht mehr schlagen konnte. Ich betete lange und legte meine ganze Kraft in das Gebet hinein. Ich konzentrierte mich so sehr, dass ich Kopfschmerzen bekam. Am nächsten Morgen war Mutter zu meiner großen Überra-schung krank. Sie lag den ganzen Tag auf der Couch und rührte sich kaum. Da Vater zur Arbeit gegangen war, kümmerten sich meine Brü-
der und ich um sie, so als wäre sie unsere Patientin.
Als die Jahre verstrichen und ich immer mehr Schläge bekam, dachte ich darüber nach, wie alt Mutter war, und versuchte zu berech-nen, wann sie sterben könnte. Ich sehnte mich nach dem Tag, an dem 77
ihre Seele in den Tiefen der Hölle schmoren würde. Erst dann würde ich frei sein.
Ich hasste Vater auch. Er wusste ganz genau, in was für einer Hölle ich lebte, aber er hatte nicht den Mut, mich zu retten, wie er es mir in der Vergangenheit so viele Male versprochen hatte. Als ich meine Beziehung zu Vater jedoch analysierte, wurde mir klar, dass er mich als
Weitere Kostenlose Bücher