Muster - Steffen-Buch
Bedingungen befreien und aus eigener Kraft ein Sieger werden kann.
Das Tosen der Wellen bringt mich in die Gegenwart zurück. Das Holzstück, das ich beobachtet habe, verschwindet in den Tiefen des Meeres. Ich verweile nicht länger und gehe schnell zu meinem Wagen zurück. Augenblicke später mache ich mich mit meinem Toyota auf den Weg in mein geheimes Utopia. Vor Jahren, als ich im Dunkeln lebte, träumte ich immer von meinem geheimen Ort. Heute kehre ich, wann immer ich es einrichten kann, zu diesem Fluss zurück. Ich mache einen Zwischenstopp im nahe gelegenen Monte Rio, um in der Rio Villa eine 90
wertvolle Fracht abzuholen, und dann brause ich wieder über das schmale schwarze Band, das sich durch die Landschaft windet. Für mich ist es ein Wettlauf mit der Zeit, denn die Sonne geht gleich unter, und einer meiner lebenslangen Träume wird gleich wahr werden.
Als ich die friedliche Stadt Guerneville erreiche, drossele ich den Geländewagen von Renngeschwindigkeit auf Schneckentempo. Ich trete auf die Bremse, ehe ich rechts in den Riverside Drive einbiege. Ich kurbele das Fenster herunter und fülle meine Lunge mit der klaren Luft.
Der süße Duft der emporragenden Redwoodbäume, die sanft im Wind schaukeln, steigt mir in die Nase.
Ich bringe den weißen Toyota vor dem Blockhaus, in dem meine Familie vor einer halben Ewigkeit die Sommerferien verbracht hat, zum Stehen. 17426 Riverside Drive. Wie so viele Dinge hat sich auch das Haus verändert. Vor Jahren hat man hinter dem Kamin zwei winzige Schlafzimmer angebaut. Vor der Überschwemmung 1986 wurde ein vager Versuch gemacht, die Küche zu erweitern. Der berühmte Baum, auf dem meine Brüder und ich früher stundenlang herumgeklettert sind, ist jetzt am Absterben. Nur die dunkle Decke aus Zedernholz und der Kamin aus Flusssteinen sind unverändert geblieben.
Ich bin ein bisschen traurig, als ich mich abwende und über den Kiesweg gehe. Dann trete ich mit meinem Sohn Stephen an der Hand durch einen engen Durchgang neben dem Haus, durch den meine Eltern vor vielen Jahren mit meinen Brüdern und mir gegangen sind.
Ich kenne den Eigentümer und bin mir sicher, dass er nichts dagegen hätte. Mein Sohn und ich blicken stumm in Richtung Westen. Der Russian River, der in den weiten Pazifik mündet, ist so, wie er immer war -
dunkelgrün und wie ein Spiegel. Eichelhäher rufen sich etwas zu, während sie durch die Lüfte gleiten und zwischen den Bäumen verschwinden. Der Himmel über uns ist jetzt mit orangeroten und violetten Streifen durchzogen. Ich hole noch einmal tief Luft und schließe die Augen, um den Augenblick zu genießen, so, wie ich es damals getan habe.
Als ich die Augen öffne, läuft mir eine Träne über die Wange. Ich knie nieder und nehme Stephen in die Arme. Ohne zu zögern, legt er den Kopf zurück und gibt mir einen Kuss. »Ich hab dich lieb, Dad.«
»Ich dich auch«, erwidere ich.
Mein Sohn blickt in den dunkler werdenden Himmel. Seine Augen weiten sich, als er in die untergehende Sonne schaut. »Ich finde, dass dies der schönste Ort auf der ganzen Welt ist!«, verkündet er.
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Ich habe einen Kloß im Hals und mir laufen die Tränen übers Gesicht. »Das finde ich auch«, sage ich.
Stephen besitzt noch diese wunderbare kindliche Ungeduld, und doch ist er für sein Alter bereits ungewöhnlich klug. Selbst jetzt, da mir salzige Tränen übers Gesicht rinnen, lächelt er und sorgt so dafür, dass ich mich meiner Tränen nicht schämen muss. Er weiß, warum ich weine. Stephen weiß, dass es Freudentränen sind.
»Ich hab dich lieb, Dad.«
»Ich dich auch, mein Sohn.«
Ich bin frei.
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Überlegungen zum Thema
Kindesmisshandlung
Dave Pelzer
Überlebender
Als ein Kind, das in einer dunklen Welt lebte, fürchtete ich um mein Leben und dachte, ich wäre allein. Heute, als Erwachsener, weiß ich, dass ich es nicht war. Es gibt tausende anderer misshandelter Kinder.
In den verschiedenen Quellen werden unterschiedliche Zahlen genannt, aber laut Schätzungen wird in den USA eines von fünf Kindern körperlich, seelisch oder sexuell missbraucht. Leider gibt es unter den vielen schlecht informierten Menschen auch jene, die glauben, dass Misshandlung nicht mehr sei, als dass Eltern von ihrem »Recht« Gebrauch machen, ihre Kinder zu disziplinieren, und dabei ein wenig die Kontrolle verlieren. Diese Menschen glauben womöglich auch, dass übertriebene Disziplinierung im Kindesalter keinen negativen Effekt auf das spätere
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