Mustererkennung
ihr Vater sie durch den Londoner Zoo geführt hat, als sie zehn war.
Sie sitzen auf hölzernen Klappstühlen, die aussehen, als hätten sie die deutschen Luftangriffe miterlebt, und nippen vorsichtig an dem kochendheißen Zeug.
Aber da hat sie ein Michelin-Männchen im Blickfeld: Weiß, fett, madenartig thront es auf der Kante eines Verkaufstischs etwa zehn Meter von ihr weg. Es ist einen guten halben Meter groß und vermutlich von innen beleuchtbar.
Das Michelin-Männchen war das erste Markensymbol, das bei ihr eine phobische Reaktion auslöste. Damals war sie sechs.
»Er hat ‘ne Ente ins Gesicht gekriegt, bei zweihundertfünfzig Knoten«, rezitiert sie leise.
Voytek blinzelt. »Wie bitte?«
»Nichts, Entschuldigung«, sagt Cayce.
Es ist ein Mantra.
Ein Freund ihres Vaters, ein Verkehrspilot, hat ihr, als sie ein Teenager war, von einem Kollegen erzählt, der nach dem Start von Sioux City im Steigflug mit einer Ente kollidierte. Die Frontscheibe zerbarst, und im Cockpit brach ein Hurrikan los.
Das Flugzeug konnte sicher landen, der Freund überlebte und saß weiter am Steuerknüppel, nur jetzt mit inoperablen Glas—splittern im linken Auge. Die Geschichte faszinierte Cayce, und irgendwann fand sie heraus, daß dieser Satz, rechtzeitig ausge-sprochen, die Panik zurückzudrängen vermochte, die sie beim Anblick der schlimmsten Auslöser überfiel. »Ein verbaler Tick.«
»Tick?«
»Schwer zu erklären.« Sie guckt woandershin und bemerkt einen kleinen Stand mit gruselig aussehenden Gerätschaften –alte chirurgische Instrumente, wie es aussieht.
Der Standinhaber ist ein sehr alter Mann mit hoher, alters—fleckiger Stirn und schmutzigweißen Augenbrauen. Sein Kopf sitzt tief zwischen den Schultern, was ihm etwas Raubvogelartiges gibt. Er steht hinter einem Verkaufstisch, in dessen Glasauf-satz die Instrumente funkeln. Die meisten liegen in entsprechend geformten, mit verschossenem Samt ausgeschlagenen Kästen. Da ihr das als willkommene Ablenkung vom Thema Enten-Tick erscheint, nimmt Cayce ihren Kaffee und überquert den mit splittrigen Bohlen ausgelegten Gang zwischen den Standreihen.
»Können Sie mir bitte sagen, was das ist?« fragt sie und zeigt willkürlich auf einen Gegenstand. Er guckt erst sie an, dann das fragliche Objekt, dann wieder sie. »Ein Trepaniergerät von Evans, London, circa 1780, im Original-Fischhautetui.«
»Und das?«
»Ein französisches Lithotomiegerät mit Drillbogen, von Grangeret. Messingbeschlagenes Mahagonikästchen.« Die tiefliegenden, rotgeränderten Augen mustern sie, als nähme er Maß für eine kleine Runde mit dem Grangeret-Ding, einer unheimlich aussehenden Apparatur, die, in ihre Bestandteile zerlegt, in den mottenzerfressenen Samtrillen liegt.
»Danke«, sagte Cayce und befindet, daß das jetzt doch nicht die richtige Zerstreuung ist. Sie dreht sich zu Voytek um.
»Komm mit, wir gehn ein bißchen an die frische Luft.« Er erhebt sich fröhlich, schultert die nunmehr pralle Tasche mit den Sinclairs und folgt ihr die Treppe hoch und auf die Straße.
Die jetzt so voll ist, wie sie es von früheren Besuchen in Erinnerung hat. Immer mehr Touristen, Antiquitätenfans und Leute-gucker kommen von den nächstliegenden U-Bahn-Stationen her, darunter viele Amerikaner und Japaner. Menschenmassen, so dicht wie das Publikum bei einem Stadion-Rockkonzert, schieben sich in beide Richtungen die Portobello entlang, auf der Fahrbahn, da die Bürgersteige von fliegenden Händlern mit Tapezier-und Klapptischen und den um sie gescharten Interes-senten okkupiert sind. Überraschend ist die Sonne rausgekommen, und von der Hitze, dem Gedränge und dem letzten Rest Seelenverspätung ist Cayce mit einemmal ganz schwindlig.
»Nicht gut jetzt, für Sachenfinden«, sagt Voytek und umklammert schützend seine Tasche. Er trinkt aus. »Ich muß gehen. Die Arbeit wartet.«
»Was machst du?« fragt sie, hauptsächlich um die Benom—menheit zu überspielen.
Aber er deutet nur mit einer Kopfbewegung auf seine Tasche.
»Ich muß Zustand feststellen. War schön, dich kennenlernen.«
Er fummelt etwas aus der Brusttasche seiner Jeansjacke und streckt es ihr entgegen. Es ist ein Kärtchen aus weißem Karton mit einer aufgestempelten E-Mail-Adresse.
Cayce hat nie Karten bei sich und war immer schon vorsichtig mit persönlichen Daten. »Ich habe keine Karte dabei«, sagt sie, nennt ihm dann aber, aus einem spontanen Impuls heraus, ihre derzeitige Hotmail-Adresse, sicher, daß er sie
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