Mustererkennung
ein paar Fehlversuchen gelingt es ihr, es auszuschalten. Sie legt es wieder in die Computertasche, macht diese zu und schiebt sie auf den hinteren Teil der Schreibtischplatte.
Atmet tief durch und noch einmal, macht dann die Pilates—Wirbelsäulenübung, indem sie sich Wirbel für Wirbel zu einer Art aufrechter Embryonalstellung zusammenrollt. Richtet sich anschließend, so langsam und fließend wie irgend möglich, wieder auf.
Damiens Telefon klingelt.
»Hallo?«
»Hier Voytek.«
»Ich brauche deine Hilfe, Voytek. Könntest du einen Satz Schlüssel für mich aufbewahren und einem Freund von mir aushändigen, sobald er sich meldet? Ich gebe dir zwanzig Pfund dafür.«
»Ist nicht nötig zahlen, Casey.«
»Nimm es als Spende für dein ZX-81-Projekt. Ich habe einen neuen Job und ein Spesenkonto«, sagt sie in dem Gefühl zu lügen, bis ihr aufgeht, daß es ja gar nicht mal gelogen ist. »Können wir uns in zwei Stunden treffen, da wo wir gefrühstückt haben?«
»Ja?«
»Gut. Bis dann.« Sie legt auf.
Und fragt sich jetzt erstmals – und überhaupt zum ersten Mal im Leben –, ob das Telefon angezapft ist. Könnte das der wahre Grund für die Anwesenheit des Asiengirls-Phantoms gewesen sein? Dorotea, das Aas, ist Industriespionin oder war es zumindest, also ist das wohl nicht gänzlich ausgeschlossen.
Solche Leute arbeiten mit so was. Wanzen. Spy-Shop-Zeug. Sie läßt ihre Telefonate seit der Asiengirls-Sache Revue passieren.
Das einzige, das halbwegs von Belang war, mit Helena wegen Trans, hat sie von einem Kartentelefon an der Camden High aus geführt. Und jetzt dieses hier mit Voytek, aber solange der mögliche Lauscher nicht weiß, wo sie sich zufällig beim Früh-stück begegnet sind … Aber könnte man nicht seine Nummer zurückverfolgen, wohin auch immer?
Sie geht in den Raum, wo sie ihr Gepäck gelagert hat, und beginnt mit dem Reisevorbereitungsyoga des Zusammenfaltens und Einpackens von CPUs, das ihrem Körper irgendwie mitteilt, daß sie bald schon der Sorge um diese konkrete Peripherie enthoben sein wird.
Als sie damit fertig ist, legt sie sich auf die graue Steppdecke und befiehlt sich im Einschlafen, in einer Stunde wieder aufzuwachen, um Voytek in dem Bistro in der Aberdeen Street zu treffen. Und sie weiß, sie wird rechtzeitig wach sein.
Und träumt, obwohl sie das selten tut oder sich selten daran erinnert, daß sie sich allein im Fonds eines Taxis befindet, in London, und die Vergänglichkeit des Spätsommerlaubs das Alter dieser Stadt, ihre lange Geschichte, ihre sture, unerschüt-terliche Ausdehnung noch hervorhebt. Hohe Häuserfassaden, undurchdringliche Pokerfaces. Sie fröstelt, obwohl es eine warme Nacht ist, die Luft im Taxi stickig, und das Bild aus Damiens Mail steht wieder vor ihr, feuchtgraue Knochenpyra—miden neben Grabungslöchern in einem russischen Sumpf.
Was heißt das, so mit den Toten, mit der Geschichte umzugehen? Sie hört das Klirren von Spitzhacken, trunkenes Gelächter, und sie ist im Taxi, und ihr ist schlecht, und sie ist dort in dem Kiefernwald, im Sommersumpf, Augenzeugin, das ist ihr jetzt klar, eines unbeschreiblich kannibalischen Aktes, einer Form, sich die Toten einzuverleiben, und sie denkt daran, wie sie Bigend erklärt hat, daß auch die Vergangenheit veränderlich ist, genau wie die Zukunft, aber jetzt muß sie ihm sagen, daß man sie nicht ausgraben, schänden, wegwerfen darf. Sie muß es ihm sagen, kann aber nicht sprechen, obwohl sie nun sieht, daß es Bigend ist, der am Steuer des Taxis sitzt, mit seinem Cowboyhut, und selbst wenn sie etwas sagen, selbst wenn sie dieses Etwas sprengen könnte, das ihr die Sprache so schmerzhaft abschnürt, ist er doch durch eine Glas-oder Plastikscheibe von ihrer Stimme abgeschottet, ganz darauf konzentriert zu fahren, ohne daß sie weiß, wohin.
Und sie erwacht mit Herzrasen.
Steht auf, befeuchtet sich das Gesicht mit kaltem Wasser und steigt die steile, schmale Treppe hinauf, um die Zweitschlüssel aus ihrem Versteck zu holen.
Und sie wird vorsichtig sein, draußen, auf dem Weg zu dem Treffen mit Voytek. Sie hat sich noch nie vorgenommen, darauf zu achten, ob sie verfolgt wird, aber jetzt nimmt sie sich’s vor und wird es auch tun.
Irgendwo tief in ihrem Inneren taucht ein winziges Aufzieh—U-Boot auf.
Es gibt Momente, da kann man nur den nächsten Schritt tun.
Und dann wieder den nächsten.
13 IM
WEIDENBOOT
Ihr Sitz im Oberdeck der British-Airways-747 hat sich in ein Bett verwandelt, das ihr
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