Mustererkennung
täglich, was sie ihm an Früchten zu bieten hatte: diffuse Ahnungen, Merkwürdigkeiten, offenkundige Anomalien.
Ist Prions Anwesenheit in diesem Flugzeug eine offenkundige Anomalie?
Nur dann, befindet sie, wenn sie sich selbst für das Zentrum, den Fokus von etwas hält, das sie nicht versteht, nicht verstehen kann. Das war immer Wins vorderste psychische Verteidi-gungslinie gewesen: anzuerkennen, daß er nur Teil von etwas Größerem war. Paranoia, hatte er immer gesagt, sei etwas zutiefst Egozentrisches, jede Verschwörungstheorie diene in irgendeiner Weise dazu, den Größenwahn ihrer Anhänger zu schüren.
Aber manchmal hatte er auch gesagt, selbst ausgewachsene Paranoiker hätten Feinde.
Die Gefahr, vermutet sie, ist so eine Art Apophänie.
Der feuchte weiße Lappen in ihrer Hand ist kalt geworden.
Sie legt ihn auf die Armlehne und schließt die Augen.
14 DAS GAIJIN-GESICHT VON BIKKLE
Elektrisches Zwielicht und eine andere Duftrichtung von Koh—lenwasserstoffen empfangen sie, als sie, ihr Rollköfferchen hinter sich herziehend, aus dem Bahnhof Shinjuku kommt.
Sie hat den JR-Express von Narita in die City genommen, weil sie weiß, daß man sich auf diese Weise die Stoßstange-an-Stoßstange-Kriecherei auf der Autobahn und eine der langwei-ligsten Busfahrten der Welt ersparen kann. Pamela Mainwarings Wagen wäre auch nicht schneller gewesen und hätte Kontakt mit Blue-Ant-Leuten bedeutet, etwas, das sie auf ein Minimum zu reduzieren gedenkt.
Nachdem sie Prion und seine Freundin kurz nach dem Verlassen der Maschine aus den Augen verloren hat, hofft sie jetzt, daß die beiden, was auch immer sie hier wollen mögen, in dem Verkehrsstrom feststecken, dem sie selbst entgangen ist.
Als sie hinaufschaut in den manisch flimmernden Wald von Leuchtreklamen, sieht sie auf einem Riesenbildschirm ganz oben an einem Hochhaus das Coca-Cola-Logo blinken, gefolgt von dem Slogan »KEIN GRUND!« Er verschwindet, wird von
einem Videonachrichtenclip abgelöst, dunkelhäutige Männer in hellen Gewändern. Sie blinzelt, sieht im Geist dort oben die Türme brennen und rundherum einen Wirbel hektisch aufblit-zender Bilder. So was Verrücktes. Ist das wirklich passiert?
Es ist warm und ein bißchen stickig.
Sie hält ein Taxi an; die Fondtür springt auf diese mysteriöse japanische Art auf. Sie schwingt ihr Rollköfferchen auf den Rücksitz, steigt ein, arrangiert sich auf dem makellos weißen Baumwollschonbezug und vergißt um ein Haar, nicht die Tür hinter sich zuzuziehen.
Der weißbehandschuhte Fahrer schließt sie mittels des Hebels unter seinem Sitz, dreht sich dann um.
»Park Hyatt Tokio.«
Er nickt.
Sie fädeln sich ein in den dichten, langsamen, auffallend leisen Verkehrsstrom.
Sie holt ihr neues Handy heraus und schaltet es ein. Auf dem Display erscheinen Kanji-Schriftzeichen. Fast im selben Moment klingelt es.
»Ja?«
»Cayce Pollard, bitte.«
»Am Apparat.«
»Willkommen in Tokio, Cayce. Jennifer Brossard, Blue Ant.«
Amerikanische Stimme. »Wo sind Sie?«
»Shinjuku, auf dem Weg zum Hotel.«
»Brauchen Sie irgendwas?«
»Schlaf, schätze ich.« Natürlich ist es komplizierter, da die Seelenverspätung hier in völlig neuer Form zum Tragen kommen wird. Sie kann sich nicht erinnern, wie sie mit dem Jetlag umgegangen ist, als sie das letzte Mal hier war, aber das ist auch schon zehn Jahre her. Tanzen und reichlich Alkohol vermutlich. Da war sie noch wesentlich jünger, und außerdem war es die Hochphase der Aktienblase.
»Sie haben ja unsere Telefonnummer.«
»Danke.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Jäh wieder allein in der Dämmerstille eines Tokioter Taxis.
Sie guckt aus dem Seitenfenster, läßt zögernd mehr von dieser fremden und doch halb vertrauten Marketingkultur an sich heran, aber die unzähligen Signale und Symbole sind jetzt zuviel für sie. Sie schließt die Augen.
Im Park Hyatt weitere weißbehandschuhte Hände. Ihr Rollköfferchen wird herausgehoben, auf einen Gepäckkarren gelegt und dann mit einer Art dickem seidenem Fischernetz bedeckt, dessen Ränder mit Gewichten beschwert sind, ein Ritual, das sie verblüfft: ein Relikt aus glanzvolleren Zeiten europäischer Hotelkultur?
In dem geräumigen Hitachi-Lift ebenfalls weiße Handschu—he, die den Knopf für die Lobby drücken. Die Kabine gleitet gespenstisch ruhig aufwärts, in einem Tempo, das ihr das Blut aus dem Kopf zieht. Vorbei an ungezählten, unmarkierten Etagen, dann öffnet sich die Tür lautlos zu einem
Weitere Kostenlose Bücher