Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Warum haben gerade bei uns klassische Familienklischees so eine starke Beharrungstendenz?
Und wenn dem so ist, wie kann es mir, uns, trotzdem gelingen, in unserer Familie, der kleinsten politischen Einheit, andere Glaubenssätze zu leben?
Und: Gibt es eigentlich Eltern, Menschen, die das auch so sehen? Die sich bevormundet fühlen von überkommenen Unternehmensstrukturen und einem altmodischen familienpolitischen System? Von Kindergärten und Schulen, deren Konzept hundert Jahre alt ist und den heutigen Anforderungen an ein glückliches Leben nicht gerecht werden kann. Es sind nicht die Kinder, die Stress bedeuten, die dazu zwingen, ein lieb gewonnenes Leben aufzugeben, sondern die Rahmenbedingungen, in denen ich mit Kindern leben muss. Muss?
Die Umstände sind doch immer gestaltbar?
Ich muss nur die Kraft und Stärke aufbringen, mir meinen individuellen Lebensstil mit Kind zu überlegen. Die Eckpfeiler zu definieren. Und dann konsequent an die Umsetzung gehen.
Commune
Um acht Uhr morgens schließt Frederics Fahrer die Autotür hinter uns. Der Dunst in Peking ist mittlerweile unerträglich. Levi hustet sich morgens wach, und ich wür-de gerne mal wieder die Sonne sehen. Gegen zehn Uhr fahren wir durch einen hügeligen Märchenwald. Ich öffne das Fenster. Die Luft ist klar, die Sonne glitzert verschwörerisch durch im Wind rauschende Blätter. Zwischen dem mächtigen Grün blitzen als schüchternes Empfangskomitee mal rote, mal bambusbraune und mal weiße Gebäude auf. Auf den ersten Blick genau das, was ich brauche.
Als ich mit dem schwarz gekleideten Chinesen in dem mir zugedachten Zimmer ankomme, ist es mit der Euphorie vorbei. Wir stehen in einem schlicht-spartanisch grau gekachelten Zimmer mit scharfkantig abgebrochenem Badmobiliar. Das Ganze befindet sich in einem rechteckigen Wohnblock, in dem neben einigen wenigen Zimmern vor allem Seminarräume angesiedelt sind. Zur Begrüßung winken uns leer getrunkene Kaffeetassen, zerfledderte Kanapees und angebissenes Obst in der Eingangshalle entgegen: typische Tagungsatmosphäre. So ziemlich das Letzte, wonach ich mich gerade sehne.
Da der schwarz gekleidete Herr meine Worte zwar nicht versteht, aber merkt, dass ich nicht vorhabe, mich hier niederzulassen, laufen wir zurück zur Rezeption, um die Optionen zu klären.
Es gibt kaum welche. Die Bambushäuser, das architektonische Highlight, sind alle wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Gleiches gilt für fast alle der roten vogelhausähnlichen Cantilever-Häuser. Bis auf zwei. In einem wohnen die ausschließlich männlichen Teilnehmer eines Firmenevents. In dem anderen vier chinesische Familien. In beiden Häusern sei jeweils noch ein Zimmer frei. Ansonsten gebe es noch ein Zimmer in einem Forest House. Das liegt neben dem Kindergarten, der leider erst in ein paar Tagen öffnet. In dem Haus wäre ich komplett allein. Mit Levi.
Hmmmmm.
Das Prinzip ist also Housesharing. In jedem Haus gibt es zwischen vier und zehn Zimmer mit separatem Bad. Wohnzimmer, Küche und Terrassen werden geteilt. Klingt eigentlich ganz spannend, denke ich, während ich in meinem Hinterkopf die Vor- und Nachteile von dauerbetrunkenen, aber sicher fröhlichen Geschäftsleuten gegen vier Familien mit drei Teenagerkindern abwäge. Leider ohne eindeutiges Ergebnis.
Also Zeit gewinnen. Ich sage dem Rezeptionisten, dass ich gerne die beiden Zimmer sehen würde, und er antwortet erwartungsgemäß, dass die Zimmer und Häuser sich stark ähneln. Ich stelle mich doof, und so machen wir unseren zweiten Spaziergang durch zauberhaften Märchenwald und vorbei an preisgekrönter chinesischer Architektur.
Vor einem der roten Betonvogelhäuser bleiben wir stehen. Sofort fühle ich mich wie in einen James-Bond-Film der späten Sechziger- oder frühen Siebzigerjahre hineinversetzt: riesiger offener Wohnbereich mit meterhohem Luftraum, über dem Nichts schwebenden Dachterrassen, komplett verglaste Fronten eingeklemmt zwischen Betonboden- und decken. Eingerichtet in gedeckten Pastelltönen im eco-bohemian chic . Jeden Moment könnte Sean Connery um die Ecke geschlendert kommen und um einen Wodka Martini bitten. Statt Oliven liegen Verpackungen von Nudelfertiggerichten und ziemlich viele Paar Schuhe herum. Witzig, dass das moderne chinesische Architektur aus dem Jahre 2002 ist. Ich hätte etwas Hightech-Futuristischeres erwartet. Asiatisch wirkt hier in meinen Augen gar nichts. Auch nicht auf eine irgendwie verfremdete Art. Natur und Wohnraum
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