Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Essenstüten im Wohnbereich ankomme, verstummt der chinesische Singsang schlagartig.
»Nihau!« , schmettere ich das einzige chinesische Wort, das ich kenne, freundlich in die Runde. Die daraufhin auf mich einbrechende chinesische Wortwelle kontere ich mit breitem Grinsen und einem Fingerzeig auf meine Zimmertür.
»What do you do here?« , fragt mich ein elfjähriger Junge.
»I live here. The hotel gave me a room in your house!«
Der Junge übersetzt, und ich ernte ein mehrstimmiges »Ahhhh!«, begleitet von für mich nicht lesbaren Gesichtsausdrücken.
»I have a lot of dumplings from the restaurant I would like to share with you all!« , sage ich zu dem kleinen Chinesen, gehe in die Küche und fülle die Dumplings in Schüsseln.
Der Junge übersetzt, ich nehme mit Levi an der großen Tafel Platz. Unser Teller wird mit Reis und Gemüse und Dumplings vollgeladen. Die drei Kinder sprechen das beste Englisch, mit den Eltern kann ich mich verständigen. Das dreizehnjährige Mädchen spielt mit Levi, und der neunjährige Junge erzählt, dass er gerade einen Mathematikwettbewerb gewonnen habe. Die Dreizehnjährige lässt uns wissen, dass sie derzeit für einen Musikwettbewerb übt – Geige. Die Familien stammen aus einem Vorort von Peking. Frauen und Männer arbeiten, pendeln jeden Tag ins Zentrum. Die Kinder werden bis abends in der Schule betreut. Sie machen zum ersten Mal im Commune by the Wall Urlaub. Für fünf Tage. Letztes Jahr waren sie in Lijiang in Yunnan. Ich erzähle, dass ich in der Provinz Yunnan die Tigersprungschlucht durchwandert habe, und von meiner Mission.
»Ich kann dich gut verstehen«, sagt die eine Frau. »Mir wird manchmal auch alles zu viel. Job, Kind, Mann. Dann überlege ich, Hausfrau zu werden. Aber die Ausbildung unseres Sohnes kostet viel Geld. Die Wohnung und die beiden Autos auch. Auf dem Land ist es einfacher.«
»Wieso?«, frage ich.
»Weil man da nicht so viele Dinge braucht!«
»Wie meinst du das?«
»Da hat niemand so viel. Dann braucht man das selbst auch nicht.«
Die Männer ziehen sich zum Whiskytrinken auf die Dachterrasse zurück, und ich räume mit den drei Frauen zusammen auf.
»Wo ist dein Mann?«, fragt die eine.
»Zu Hause, ich wollte die Reise mit Levi allein machen!«
»Auf chinesische Männer ist auch kein Verlass!«, lachen die drei Frauen und zwinkern mir verschwörerisch zu. Ich genieße den subversiven Moment und gebe mir keine Mühe, das Missverständnis aufzuklären.
»Als Mutter ist klar, was du den ganzen Tag machst: Du lebst für dein Kind!«, sagt die eine und schaut verträumt auf ihre Tochter.
»Wir leben alle für unsere Kinder, die sollen es besser haben!«, sagt die andere.
»Aber euch geht es doch auch gut?«, frage ich.
»Ja, aber unsere Kinder sollen im Ausland studieren, die Welt sehen, mehr Geld verdienen!«
»Wofür geben die Chinesen ihr Geld dann aus?«
»Damit sie ein gutes Leben haben. Und sich um ihre Eltern kümmern können, wenn wir alt sind. Jedes Kind hat zwei Eltern zu versorgen, da ein Paar in China meistens nur ein Kind bekommt.«
»Zwei Kinder wären mir zu anstrengend!«, sagt die eine und lacht.
»Wärst du gerne mehr mit deinem Kind zusammen?«, frage ich.
»Ja, aber dann können wir uns die Ausbildung nicht leisten. Und die Ausbildung ist wichtiger als ich! Und außerdem hat mein Kind wenig Zeit neben Schule, Sport, Musik und dem Forscherklub.«
Abends im Bett höre ich die Männer diskutieren und lachen. Ich denke darüber nach, dass ich mich zwischen den zahlreichen Facetten meines Lebens nicht entscheiden kann und will. Ich möchte mal viel Zeit mit Levi haben und mich mal mehr um meine Themen kümmern. Mal unterwegs sein und mal nicht. Serielles Nomadentum. Ein experimentelles Leben in Projekten. Ein Projektleben. Mein Leben als Projekt. Und Levi als Teil davon. Und so verantwortungslos das vielleicht in manch Routine suchenden Ohren klingt: Levi zeigt mir auf dieser Reise, dass es ihm guttut, unser Leben als Projekt zu begreifen. Ein kleiner Nomade zu sein mit einem starken Nest als Anker. Sein Nest bin ich. Und seine Kuscheldecke. Wo ich oder die Decke sind, ist ihm bisher egal, denke ich. Und für mich?
Für mich ist Markus mein Anker. Und unser sich entwickelndes und permanent veränderndes Leben als Familie. Und unser Zuhause in München. Und ich selbst. Überall, wo es mir gelingt loszulassen. So wie heute. Auf der Terrasse des Bambushauses.
In stressigen Reisesituationen hilft es schon, an unser
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