Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
kultureller und sonstiger Unterschiede nachfühlen, wie es in ihr aussieht. Ansonsten ist es in China sicher schon Herausforderung genug, ein individuelles selbstbestimmtes Leben zu führen. Aber mit Kind? Denn eines habe ich durch unsere Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn erfahren: Als freigeistige Mutter mit individuellen Lebensvorstellungen muss man extrastark sein.
So oder so, zum Glück weiß ich durch meine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn auch: Der einzige Mensch, der mich einschränken kann, bin ich selbst.
»Eigentlich nicht!«, antworte ich, als Stellas immer noch erwartungsfroh auf mich geheftete Augen mich an ihre Frage nach dem Reisen mit Kind erinnern. »Man muss einfach aufbrechen. Der Rest findet sich irgendwie. Die größte Hürde ist der eigene Kopf!«
»Ahhh!«, antwortet Stella und bleibt noch lange bei uns sitzen.
Als ich einige Zeit später schwitzend und keuchend mit Levi in der Babytrage nach einem steilen und zum Teil ausgesetzten Aufstieg auf einem imposant-bröckeligen Teilstück der Chinesischen Mauer stehe und den Blick schweifen lasse über die Unendlichkeit aus grauem Stein und blassgrünen Hügeln, bringt ein Glücksbote diese Gedanken: Vor Levis Geburt hatte ich Angst, dass ich für Levi mein Leben aufgeben müsste. Dass die Verantwortung für Levi mich vom Reisen, vom Verwirklichen meiner Träume abhalten würde. Und nun stehe ich hier. Mit meinem elf Monate alten Sohn. Auf der Chinesischen Mauer. Hinter uns liegen zwei Monate gemeinsamen abenteuerlichen Reisens. Bereichernde und berührende Begegnungen, die ich so ohne Levi nicht gehabt hätte. Und vieles mehr.
Levi zwingt mir nichts auf. Im Gegenteil: Levi hat mich dazu gebracht, noch mehr so zu leben, wie es mir – und offensichtlich auch ihm – guttut. Ich muss und darf mich nicht aufgeben. Der kleine Kerl verdient eine zufriedene und starke Mutter. Er braucht Anregungen und fordert meine Echtheit. Er merkt, wenn irgendetwas in meinem Verhalten nicht stimmig ist oder ich mich nicht wohlfühle. Seit Levi kann ich mir noch weniger etwas vormachen.
Irgendwie ist es genau anders als erwartet: Die letzten Monate fühlen sich an, als hätte ich mehr mein Leben gelebt als jemals zuvor.
Ob ich und wir es schaffen, dieses Gefühl unserer ersten gemeinsamen Reise mit nach Hause zu nehmen? Kann es gelingen, den transsibirischen Rhythmus auch in München zu leben?
Levi sitzt auf meinem Schoß, seine Haare wehen im Wind, er wirkt in Gedanken versunken.
»Heute begründen wir eine Familientradition!«, sage ich in die Stille aus Wind und Gelassenheit. »Wir machen jedes Jahr eine Reise zusammen. Eine Reise mit Mission! Zumindest solange du mit mir reisen möchtest!«
Nach einem gemütlichen Abendessen mit meinen Mitbewohnern liege ich in der Dunkelheit neben dem schlafenden Levi und muss laut loslachen: Kurz hatte ich in die Zukunft geblickt: ein Mann um die fünfzig, der eine greise Frau im Rollstuhl mit leuchtenden Augen durch unwegsames Gelände an irgendeinem wunderbaren Ende der Welt rumpelt.
Commune of the Children
Einige Tage schlendern wir ziellos zwischen Bambushäusern, unserem James-Bond-Haus und der Chinesischen Mauer umher oder hängen in der Sonne herum. Vorzugsweise auf den Terrassen der geschlossenen Bambushäuser. Mehr ist nicht mehr nötig. »Mission erfüllt!«, schießt es mir immer mal wieder durch den Kopf. Worin genau dieser Erfolg besteht, kann ich noch nicht sagen. Aber fühlen kann ich es. Und so sehe ich unserer Abreise mit Gelassenheit entgegen. Und genieße die letzten Tage in der Hoffnung und dem Wissen, dieses besondere Gefühl mit Levi, unser Reisegefühl, ganz fest in mir zu verankern.
Bis es so weit ist: Einen Tag vor unserer Abreise nach München eröffnet der hoteleigene Kindergarten.
Bevor Levi seine erste Spielsession mit chinesischen Kindern erleben darf, stärken wir uns beim Frühstück im Ballsaal des Hotels. Das gemütliche Restaurant mit Terrasse bleibt heute geschlossen. Irgendein chinesischer Feiertag treibt die Pekinger in ein verlängertes Wochenende aufs Land. Das bisher vor sich hin schnarchende Hotel ist auf einmal wuselig voll. Bestimmt hundert runde und mit weißem Stoff bodenlang bespannte Tische mit jeweils zehn ebenso dekorierten Stühlen mit großer weißer Schleife lassen mich zuerst vermuten, dass ich auf einer Hochzeitsfeier gelandet bin. Aber der Kellner weist uns den einzigen noch freien Tisch zu. Mitten im Raum. Voller Chinesen. Wir sind die einzigen
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