Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
das perfekte, aber ausgestorbene Kinderparadies verlassen, fallen Levi die Augen zu. Und so kuschle ich mich auf unserer Terrasse neben ihn und blinzle in die Sonne.
Die Tage hier im Commune by the Great Wall haben wir im Wesentlichen mit Nichtstun ausgefüllt. Wir sind einige Male zur Mauer aufgestiegen, fast täglich in eines der Bambushäuser eingebrochen, haben auf diversen Sonnenterrassen gechillt. Mit unseren Mitbewohnern geschnackt. Keine Touren. Kein Programm. Aber offen für die zufälligen Begegnungen und Möglichkeiten des Tages. Und so fühle ich mich angenehm bereichert. Ausgelastet von diesem wunderbaren Nichts, das Levi in mein Leben, in mein Reisen gebracht hat. Unser Reisen.
Vordergründig reise ich mit Levi langsamer, unternehme weniger als ohne ihn. Bei genauerem Hinfühlen merke ich, dass es mehr ist. Levi ist wie ein Blick in den Spiegel, der nur das zeigt, was wir gerade brauchen. Das, was in dem Moment wirklich wichtig ist. Der die Antwort auf die Fragen: »Was machen wir heute? Was brauchen wir heute? Wollen wir das wirklich?« schon weiß, bevor sie ausgesprochen sind. Und das entspannt ungemein. Langsam machen, nicht zu viel machen, auch mal vordergründig gar nichts machen, außer gemeinsam die Steine vor der Terrasse des Bambushauses zu begutachten, tut ungemein gut. Fühlt sich intensiver an als viele meiner randvollen Tage vor Levi.
Vor Levis Geburt und auch die ersten Wochen danach hatte ich damit gerechnet, dass mein Leben noch stressiger und hektischer wird, als es davor schon war. Denn: Zu meinem und Markus’ auch ohne Levi randvollen Terminkalendern kam ja nun Levi hinzu. Und ihm wollten wir beide uns ausgiebig widmen. Außerdem vermittelte auch der Blick in die Medien und auf die Straßen Münchens, in die gehetzten und übermüdeten Gesichter vieler Eltern den Eindruck, dass wir unser junges Familienglück nur mit ganz viel Organisation, gesunder Ernährung und Verzicht auf Paarzeit überstehen würden. Und so war es zu Beginn.
Und nun ist alles anders als erwartet: Selten war ich entspannter, als seit ich mit Levi die Transsibirische Eisenbahn bestiegen habe. Die intensive Zeit zusammen, losgelöst von unserem Leben in München, hat mir gezeigt, dass levifreundliches Reisen auch juliafreundlicher ist als mein üblicher Reisestil. Dass levigerechtes Leben auch mir besser tut als mein seit Jahren lieb gewonnener Lebensrhythmus. Und was unterwegs stimmt, ist zu Hause sicher auch nicht verkehrt.
Heißt das nicht, dass ein kinderfreundlicher Lebensstil der Schlüssel zu einem menschenfreundlichen Leben sein kann? Zu einem Leben mit weniger Burn-out, weniger Herzinfarkten, weniger sozialer Kälte und vereinsamten Menschen?
Mein Leben vor Levi kommt mir vor wie Peking: zu schnell, zu bunt, zu laut.
Mein langsames Reisen mit Levi führt hoffentlich zu einem entschleunigten Leben zu Hause: Seit ich mit Levi im Flow bin, seit ich unseren experimentellen Rhythmus verinnerlicht und lieben gelernt habe, bin ich auch im Flow mit meinem restlichen Leben. Zumindest gedanklich. Sicher mit den Aspekten, die mitgereist sind.
Die einfachen Dinge sind oft gar nicht so leicht umzusetzen. Vielleicht weil man sie gern belächelt, weil man gewohnt ist, dass heutzutage alles komplex und kompliziert ist? Es fühlt sich auf jeden Fall so an, als könne ich das auf unserer transsibirischen Reise gefundene Lebensgefühl mitnehmen. Diesen Rhythmus. Diese Daseinsform.
Reisen ist doch das Beste, was ich mit meinem Leben machen kann, denke ich zufrieden, und habe den Eindruck, dass es Levi genauso gut geht wie mir.
Aufbruch in eine neue Welt für uns drei
Wir werden den Flieger nach München verpassen. Seit einer Stunde quälen wir uns auf der verstopften fünften Ringstraße um Peking, mittlerweile kurz vor der Auffahrt zum Airport Highway. Eine gute Stunde vor dem planmäßigen Abflug.
Aber das macht mich nicht nervös. Im Gegenteil, der Gedanke an ein Wiedersehen mit dem Opposite House lässt ein Kribbeln in meiner Magengegend entstehen. Ich liebe es, wenn ich morgens nicht weiß, wo ich abends sein werde.
Dem Taxifahrer hingegen steht der Schweiß auf der Stirn. Er tänzelt mit seinem Auto zwischen allen vier Spuren hin und her, um bloß nicht stehen bleiben zu müssen. Wie alle anderen auch überholt er rechts und links, egal wie dicht der Verkehr ist. Er fährt nah auf, schießt auf die Nebenspur, ohne zu blinken. Oder setzt den Blinker, wenn das Manöver fast beendet ist. Ich überprüfe den
Weitere Kostenlose Bücher