Mut Proben
diese These empirisch zu belegen. Die Bedeutung des Experiments, das er dazu anstellte, ist gar nicht zu überschätzen – und doch ist es nur in Fachkreisen bekannt. In der breiten Öffentlichkeit weiß bis heute kaum jemand von seinen Untersuchungen – warum, das gilt es auch noch zu klären.
Trimpops Suche nach Beweisen verlief nicht geradlinig. Da war zunächst seine persönliche Erfahrung. Die Neugier, seine Freude am ungewissen Ausgang eines Fußballspiels oder eines Flirts müsse etwas Urmenschliches sein, ahnte er. Freilich konnte er nicht von sich auf andere schließen, seine Abenteuerlust war nicht repräsentativ. Doch den Reiz des Unbekannten, glaubte er, müsste eigentlich in der einen oder anderen Form jeder Mensch schon einmal erlebt haben. Und sei es, weil er zum ersten Mal in seinem Leben Kartoffeln schält.
Im Extremfall allerdings hechelt der Mensch hinauf auf achttausend Meter hohe Gipfel, stürzt sich vereiste Pisten hinab oder rast in tiefergelegten Autos so schnell um die Kurve, dass die Augäpfel aus den Höhlen treten.
Viele Menschen finden das nicht gesund.
Auch Trimpop hatte zwischendurch Anlass, am biologischen Sinn der Suche nach Grenzerfahrungen zu zweifeln: Unternehmungshungrig röhrt er mit dem Motorrad durch den Sudan, bis zwei Ganoven ihm einen Revolver vor die Nase halten und sein Gefährt entwenden; es hätte schlimmer enden können. Im Fliegerklub verheddert sich eine Sportsfreundin in ihrem Fallschirm und stürzt ungebremst zu Boden. »Warum tu ich das?«, fragt Trimpop, als er beim nächsten Mal in seine Springermontur steigt. »Es ist doch nur ein Hobby!« Sein Schock über den Absturz der Frau ist groß – doch die Vorfreude auf den kommenden Sprung, stellt er fest, ist größer. Er will weitermachen.
Um diese ungesund scheinende Neigung systematisch zu erforschen, wechselt Trimpop an die Queen’s University im kanadischen Kingston. Dort lehrt Gerald Wilde, einer der ersten und bekanntesten Risikoforscher der Welt. Und einer der umstrittensten.
35 Strässle, Andrea: »Helden mit Skalpell«, in: Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 6.1.2008.
36 Apter, Michael: »Im Rausch der Gefahr«, München 1994.
37 Opresnik, Miriam: »Mit den Waffen einer Frau«, in: Hamburger Abendblatt, 29.4.2009.
38 Till Brönner: »Ich freue mich auf die No Angels!«, Interview in: http://www.laut.de/Till-Broenner.
39 Friedrich Gulda – At Birdland, in: http://www.klassikakzente.de/aktuell/artikeldetail/article/69619/0/friedrich-gulda---at-birdland, 2007.
40 Paul Bley: »Das Süsse und das Saure«, Interview in: Neue Zürcher Zeitung, 24.8.2007.
41 Weihenmayer, Erik: »Adversity Advantage«, New York 2010.
Das Kingston-Experiment
Gerald Wilde, gebürtiger Holländer, ist ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mann, der sich nichts aus Konventionen macht. Er trägt Pullover mit Mottenlöchern und treibt seit dreißig Jahren Sicherheitsingenieure in aller Welt zur Weißglut. »Risiko«, sagt er, »ist das Salz in der Suppe des Lebens.« 42 Gegenmaßnahmen würden darin untergehen, brächten nichts. Jedenfalls keine erhöhte Sicherheit.
Den Psychologieprofessor haben seine Untersuchungen in Kanada zu zwei Überzeugungen geführt. Erstens: Es ist nicht nur langweilig, sondern überdies sinnlos, nach mehr Sicherheit zu streben. Weil zweitens: Menschen stets eine gewisse Dosis Risiko brauchen, um sich wohlzufühlen. Mit diesen Ideen hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Kein Mensch mag es, wenn sein Weltbild auf den Kopf gestellt wird – und sein Selbstverständnis von Sicherheit dazu. Aber genau das bewirken Wildes Ideen. Zudem entziehen sie vielen den Boden.
Er würde einen gewissenlosen Feldzug gegen Gesundheit und Sicherheit führen, wurde Gerald Wilde immer wieder beschimpft. Doch er schlug sich tapfer, beharrlich besuchte der kleine Mann mit dem Baumwollschlapphut Symposien der Automobilindustrie. Wenn er sich zu Wort meldete, bekamen die Veranstalter rote Ohren, weil sie wussten, nun würde er wieder den Sinn von Millioneninvestitionen in verfeinerte Knautschzonen kaputtreden. Gleichwohl schmiss man ihn nicht raus – man konnte seine Thesen verantwortungslos finden, aber von der Hand zu weisen waren sie nicht.
Was Wilde allerdings fehlte, war ein klarer Beweis. Etwas, das über die bloße Sammlung von Anekdoten und Studien hinausging. Als Rüdiger Trimpop, der forsche Nachwuchspsychologe aus Deutschland, sich 1985 bei Wilde in Kanada anmeldete, war er darum hochwillkommen. In ihm
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