Mut Proben
anzurufen.« Sehende würden ihre Chancen ebenso verpennen wie Nicht-Sehende. Wer indes ein Ziel ins Auge fasse, der finde in der Regel auch einen Weg dahin.
Es gibt nur wenig, wovor sie Angst hat. Sie möchte nicht wie Erik Weihenmayer in die Situation kommen, über eine Gletscherspalte springen zu müssen. Sie mag keine Wellen, vor allem nicht beim Schwimmen. Und bis vor einem Jahr mochte sie sich nicht vorstellen, sich von ihrem Mann zu trennen. Die Streiterei zwischen ihnen war verletzend, aber die Angst auseinanderzugehen größer. Als Blinde allein zu leben, ist nicht gerade einfach.
Sie fragte sich: Was kann ich machen? Und ihr fiel nichts ein. Inzwischen weiß sie: Das macht nichts. »Wenn man mit seinem Leben unzufrieden ist und wirklich eine Veränderung will, muss man nur abwarten. Das Problem kursiert im Hinterkopf. Irgendwann taucht die Lösung auf, ganz von allein.«
Wir haben den Teltowkanal erreicht, es regnet immer noch an diesem Nachmittag im Oktober, wir rennen den Uferweg entlang. Er ist mit Pfützen gesprenkelt. Ich hüpfe darüber oder laufe Slalom um die Wasserlöcher, versuche dabei, meinen rechten Arm in der Nähe ihres linken zu halten, um nicht aus Versehen am Schnürsenkel zu zupfen; das würde falsche Kurvensignale senden. Zugleich überlege ich, wie ich verhindern kann, dass diese Frau, die sich vertrauensvoll in meine Obhut gegeben hat, nasse Füße bekommt.
Da läuft sie schon durch die erste Pfütze. Ich müsste sie am Handgelenk fassen, ruckartig mal nach rechts, mal nach links zerren. So könnte ich sie vielleicht über trockene Wegabschnitte dirigieren, müsste selbst aber durch benachbarte Pfützen tapsen. Das will ich auch nicht. Die Furten durch den überschwemmten Weg sind so schmal, eigentlich sollte ich vor ihr herlaufen, rückwärts allerdings, weil das weiße Band uns bindet. Wir sähen aus wie ein ungeschicktes Tanzpaar, das beim Foxtrott strauchelt und in den Matsch sinkt.
»Es war gar nicht so schlimm, wie ich es mir ausgemalt hatte«, sagt Regina Vollbrecht wenig später – nicht über unseren Ausflug, sondern über die Zeit nach der Trennung. Wir sitzen auf dem Sofa, trocknen unsere Socken, und sie erzählt, welche Strategie ihr irgendwann einfiel und neuen Mut gab. ›Heulen mit Perspektive‹ könnte man sie nennen. Heulen sei gut, der Schmerz müsse ja raus. Aber weil sie nicht ewig der Zeit mit ihrem Mann nachtrauern wolle, habe sie sich Ziele gesteckt, um der drohenden Leere zu entkommen. Erstens: Kraulen lernen, möglichst ohne Wellen. Zweitens: einen weiteren Ironman, und dabei kraulen. Drittens: die Berge. Da die Tandemreisen nun ausfallen, will sie mit diesem oder jenem Menschen wandern gehen. Ihren ersten Bergführer zum Beispiel hat sie über ihren Skilehrer kennengelernt. Und so wird es vermutlich weitergehen. »Man lernt ja immer wieder neue Leute kennen.«
Stimmt, denke ich. Mich zum Beispiel, der vorhin fieberhaft nachdachte, wie er seiner Verantwortung als Guide nachkommen kann, ohne nasse Füße zu bekommen. Während meiner fruchtlosen Überlegungen hatte Regina Vollbrecht ungerührt ein paar Pfützen durchtrabt, irgendwann erwischte sie die erste fußtiefe. »Huh, ist das kalt«, rief sie, ohne ihr Tempo zu vermindern. Sie lief weiter wie am Schnürchen, in ihrem Rhythmus. Eine Zeit lang hopste und eierte ich neben ihr her, dann rannte auch ich mitten hindurch. Tatsächlich, das Wasser war kalt, aber es fühlte sich gut an.
Wo sind die Beweise?
Der fallschirmspringende Psychologieprofessor Rüdiger Trimpop ist ein interessantes Wesen, wie zusammengesetzt aus mehreren Menschen. Er besitzt die Statur eines Türstehers, darüber ein bubenhaftes Gesicht, gedeckelt von einer mönchischen Frisur. Er lächelt scheu, spricht aber selbstbewusst mit volltönender Stimme. Als Jugendlicher hat er leidenschaftlich Schach gespielt – neben Rugby und American Football. War immer gut in Mathe und fährt, seit er achtzehn ist, auf dem Motorrad rund um die Welt. Mit dem Zelt wanderte er durch die Arktis, spielte Katz und Maus mit Eisbären. Sooft es geht, taucht er mit Pressluftflaschen ab in die Tiefen der Meere.
Seine These, dass wir einem inneren Risikotrieb folgen, betrifft ihn selbst, sie erklärt sein Leben. Doch er darf sie nicht ohne Weiteres verallgemeinern. Dass Menschen ab und zu etwas Spannung genießen, ist bekannt. Trimpop aber sagt, Risikolust sei ein überlebenswichtiger Baustein in der Natur eines jeden Menschen. Und es ist ihm gelungen,
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