Mut Proben
fand Wilde sowohl die nötige Tatkraft als auch analytische Schärfe, um ein neues Experiment zu entwickeln. Der zarte Wilde und der kräftige Trimpop – das ungleiche Duo war drauf und dran, zu einem Risiko für die Sicherheitsindustrie zu werden.
Wilde und Trimpop überlegten gemeinsam: Wie erforscht man von Grund auf die Risikobereitschaft von Menschen? Der Campus der Queen’s University in Kingston befindet sich nicht allzu weit von den Niagarafällen, aber man konnte Freiwillige schlecht bitten, dort herunterzuspringen. Ebenso unmöglich war es, sie in die Nähe von Eisbären zu schicken oder sie auf Mammutbäume klettern zu lassen. Nicht nur, weil tote Probanden Trimpops und Wildes Ruf empfindlich beschädigt hätten, sondern vor allem, weil solche Experimente absolut unsystematisch wären. Die beiden brauchten einen messbaren Versuch, der zu überprüfbaren Ergebnissen führt. Trimpop und Wilde entschieden sich für den wohl unspektakulärsten Versuchsaufbau, den man sich zum Thema Risiko vorstellen kann.
Nach und nach steigen hundertzwanzig Studenten hinab in den Keller der psychologischen Fakultät. 43 Dort sollen sie sich vor einen Computer hocken und immer dann auf eine beliebige Taste drücken, wenn auf dem Bildschirm ein passbildgroßes Kästchen aufblinkt. Dabei können sie Punkte sammeln. Volle fünf Punkte bekommen sie, wenn sie nach dem Aufblinken des Kästchens genau anderthalb Sekunden warten. Wer früher drückt, wird »bestraft«: mal mit Punktabzug, mal mit null Punkten. Wer länger als anderthalb Sekunden wartet, heimst zwar Pluspunkte ein, aber immer weniger, je mehr Zeit er sich lässt. Drei Sekunden nach Erscheinen des Kästchens gibt es nichts mehr: Wer so lange zögert, wird weder belohnt noch bestraft – er geht mit plus minus null aus dem Spiel.
Reagiert der Proband zu früh und drückt, bevor anderthalb Sekunden verstrichen sind, ertönt entweder ein Piep – das bedeutet null Punkte – oder ein Doppel-Piep – schmerzhafte fünf Minuspunkte. Die Wahrscheinlichkeit, dass nach einem Frühstart ein Doppel-Piep erklingt, variiert: In manchen Spielreihen beträgt sie achtzig Prozent, in anderen fünfzig oder zwanzig. Der Proband wird über die jeweilige Wahrscheinlichkeit informiert; ebenso wird ihm nach jedem Versuch angezeigt, wie viel Millisekunden zwischen Aufblinken und seinem Tastendruck vergingen, wie weit er also von den optimalen eintausendfünfhundert Millisekunden – gleich anderthalb Sekunden – entfernt war.
Die Herausforderung bestehe darin, sich der Schwelle zur Bestrafung zu nähern, ohne sie zu übertreten, sagt Gerald Wilde. »Je mehr der Proband wagt, desto mehr gewinnt er – es sei denn, er wagt zu viel.«
Mich erinnert der Test an meine vielen unseligen Versuche, in meiner Jugend bei Weitsprung-Wettbewerben den weißen Absprungbalken zu treffen. Ich versuchte beim Anlauf, mit dem letzten Schritt so nah wie möglich an die Markierung zu treten, um nur ja keinen Zentimeter zu verschenken – bei mir kamen wenige genug zusammen, ich brauchte alle! Oft lautete das Urteil »übergetreten«, und der Sprung zählte nicht. Beim nächsten Versuch war ich vorsichtiger, stieß mich viel zu früh ab – und landete entsprechend kurz hinter dem weißen Balken. Wie sehr wünschte ich mir damals, ein Gefühl für den richtigen Anlauf zu entwickeln und den Balken perfekt zu treffen.
Das ungefähr ist auch der Sinn des Experiments im kanadischen Keller, mit dem erfreulichen Unterschied, dass es nicht auf die Sportlichkeit der Teilnehmer ankommt. Alle gehen unbelastet an den Test, niemand konnte vorher heimlich trainieren.
Bevor die Studenten drei Spielreihen mit je hundert Versuchen starten, sollen sie sich ein bisschen warm spielen und ein paar Fragen zu ihrem Lebenswandel beantworten: »Gehen Sie lieber zum Fallschirmspringen oder zum Wandern?« – »Bestellen Sie in einem Restaurant Dinge, die Sie kennen, oder probieren Sie gerne unbekannte Gerichte aus?« – »Wenn Sie an einem Abend wählen können zwischen einer wilden Party und einem Treffen mit vertrauten Menschen – wie entscheiden Sie sich?«
Die Antworten geben den Forschern Aufschluss darüber, ob sich ein risikofreudiger oder ein eher zurückhaltender Typ an den Computer setzt. Erwartungsgemäß versuchen die draufgängerisch Veranlagten, so viele Punkte wie möglich zu ergattern, und schießen dabei immer wieder übers Ziel; bei ihnen piept es oft. In einem Weitsprung-Wettkampf würde ihre Fußspitze sich
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