Mut Proben
Blinde täten – diese Form von Freizeitgestaltung ist ihr zu langweilig. »Ich muss raus, Leute treffen.« Ihren Urlaub würden viele mit Besichtigungen ausfüllen, Kirchen und Skulpturen betasten und so – »okay, wer’s mag«. Sie will in die Natur, sich bewegen. Ihre Flitterwochen hat sie auf Neuseeland verbracht, bestieg mit ihrem Gatten den Franz-Josef-Gletscher und paddelte im Doubtful Sound. Den Fjord fand sie »nicht so lustig – die Wellen waren anderthalb Meter hoch, mir war kotzübel«.
Sie ist auf dem Tandem von Toronto nach New York geradelt und von Berlin nach Zürich. Und in über dreitausend Meter Höhe durch die Berner Alpen gewandert. Das gehe sehr gut. Am Berg taste sie sich mit Wanderstöcken voran, sie trage einen Klettergurt, daran hängt ein Seil, das sie mit dem Bergführer verbindet. Der weise sie unterwegs auf Geröll oder besonders große Stolpersteine hin. Auf kniffligen Passagen halte sie seinen Stock. Gut, manchmal, bei steilen Hangquerungen, »wo die Füße gerade mal nebeneinanderpassen«, sei sie etwas angespannt. Aber sonst … »Sehende stellen sich das viel zu schwierig vor. Ich bin schwindelfrei – ich kann ja den Abgrund nicht sehen.«
Was treibt sie? Zum einen das, was schon Edmund Hillary vor der Erstbesteigung des Mount Everest 1953 in einem Interview erklärte: »Warum wollen Sie diesen Berg erklimmen, Herr Hillary? – Weil er da ist.« Regina Vollbrecht hat Sozialpädagogik in der Schweiz studiert, und sie fand: Man kann den Bergen in diesem Land nicht ausweichen. Da wusste sie noch nicht, dass die ihr einmal den Ausweg aus einer Krise weisen würden. Sie lernte, sie hinaufzufahren und wieder herunter, im Winter, auf Brettern. Der Skilehrer kurvte dicht hinter ihr und schrie »links« oder »rechts«. Auf Hohlwegen, wo sie nicht schwingen konnten, fuhr er neben ihr, und sie hielten sich an seinem Stock. »Huh«, sagt sie, »wenn der dann bei vierzig Stundenkilometern rief: ›Gleich kommt ein Hügel‹ – da müssen Sie sich ganz schön konzentrieren.«
Es gibt noch etwas, was sie treibt. »Ich habe mir irgendwann gesagt, ich möchte etwas Besonderes in meinem Leben machen.« Seit sie diesen Beschluss vor etwa zehn Jahren fasste, entdecke sie sich und die Welt. Das Leben sei viel erfüllter.
Sie genießt das Gefühl, »anzukommen, sich zu sagen: Ich habe es geschafft«. Und sie schwelgt in Erinnerungen: das Knistern und der Geruch der Lagerfeuer auf den amerikanischen Campingplätzen, die Stille in den Bergen, das Rauschen des Windes, der Duft der Wiesen, das Geläute der Kuhglocken und das Gebimmel der Ziegenschellen; sie spüre die Wärme der Sonne und sieht ihre Helligkeit. Am Strand in Neuseeland haben sie einen toten Hai gefunden, der war noch einigermaßen frisch, und sie hat ihn rundherum betastet. In Kenia, wohin sie als Botschafterin der Christoffel-Blindenmission reiste, neigte sich eine Giraffe zu ihr, und sie erfuhr zum ersten Mal, dass diese Tiere Hörner haben – »sie fühlen sich an wie pelzige Becher«.
Einer, der ihren »Hang zum Besonderen« gefördert hat, ist der Amerikaner Erik Weihenmayer, der als erster Blinder den Mount Everest erklomm und noch sechs weitere Achttausendergipfel. Er ist als Dreizehnjähriger erblindet und hat darüber ein »cooles« Buch geschrieben, sagt Regina Vollbrecht. Die Passage, wo er seine Blindenstöcke voller Wut von der Autobahnbrücke schmeißt und zuhört, wie die Autos darüberdonnern und die verhassten Hilfsmittel zerfetzen, findet sie »echt lustig«. »Zu dieser Zeit konnte er mit seiner Blindheit noch nicht umgehen«, sagt sie. »Das ist nicht einfach, wenn man mal gesehen hat.« Regina Vollbrecht hat nie Bilder gesehen, die sie vermissen könnte. Auch im Traum sieht sie nichts – da wirbeln ihr Gespräche und Berührungen, Klänge und Gefühle durch den Kopf.
Erik Weihenmayer schreibt heute Sätze wie: »Zu oft lassen wir uns von unseren Ängsten lähmen und daran hindern, unser Potenzial auszuschöpfen. Wir gehen auf Nummer sicher und erfahren so nie, wozu wir fähig sind.« 41 Das spricht Regina Vollbrecht aus dem Herzen. »Man muss sich auf seine Fähigkeiten besinnen, sich fragen: Was kann ich?«, sagt sie. Wenn allerdings Blinde sich diese Frage stellten, »fällt ihnen vor lauter Schreck meist nur ein, was sie nicht können«. »Sehende können vielleicht mehr«, entgegnet sie ihnen dann. »Aber wie oft tun sie es nicht? Sie könnten ins Kino gehen, aber raffen sich nicht auf, einen Freund
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