Mut Proben
Vororte Londons lenkten.
Taylor hatte eine variantenreiche Tour gewählt: Sich windende Landstraßen wechselten ab mit vierspurigen Autobahnen, vorörtlichen Wohnbezirken und städtischen Einkaufstraßen. Erwartungsgemäß reduzierten die Testfahrer das Tempo in engen Kurven, auf Schotterpisten oder unübersichtlichen Kreuzungen. War die Straße frei, gaben sie Gas. Taylor staunte jedoch nicht schlecht, als er sich nach den Fahrten über die Daten aus dem Messgerät beugte. Sie zeigten eine über die gesamte Fahrzeit hinweg weitgehend stabile Erregung. Offenbar richteten sich die Fahrer nach einer Art innerem Tempomat. Wie flott oder langsam sie fahren sollten, verriet ihnen nicht nur die Umgebung, sondern vor allem ihr Gefühl. Ob auf einer holprigen Allee mit Schlaglöchern oder einer frisch asphaltierten Überlandstraße, ob sie ein Auto überholten oder sich dagegen entschieden: Sie versuchten in allen Situationen eine gleich hohe, anscheinend angenehme Anspannung zu wahren.
Gerald Wilde war elektrisiert von diesem Ergebnis. Gemeinsam mit zwei Kollegen aus seiner Heimat Holland erweiterte er das Experiment, um mehr zu erfahren über die Risikobereitschaft extrem unterschiedlicher Charaktere. Über hundert Freiwillige meldeten sich auf eine Anzeige in einer Lokalzeitung. Die Forscher legten ihnen Fragen über ihre Abenteuerbereitschaft im Alltag vor. Daraufhin pickten sie sich einundzwanzig besonders Wagemutige und einundzwanzig besonders Vorsichtige heraus. Einer nach dem anderen setzte sich in einen Volvo-Kombi und verfolgte über achtzehn Autobahn-Kilometer einen Peugeot. 47
Der französische Wagen fuhr konstant hundertzehn Stundenkilometer. Der schwedische mit dem Freiwilligen am Steuer und einem begleitenden Wissenschaftler war mit Radar- und Infrarotgerät ausgestattet, um Geschwindigkeit, Beschleunigung und den Abstand zum vorausfahrenden Franzosen zu messen. Unterwegs sollten die Kandidaten berichten, wie gefährlich sie bestimmte Situationen einschätzten, mithilfe einer Skala, die von null – nicht riskant – bis drei – sehr riskant – reichte.
Die Vorsichtigen hielten einen fast doppelt so großen Abstand zum vorausfahrenden Wagen wie die Kühnen. Wenig überraschend. Doch sie fühlten sich deswegen nicht sicherer! Trotz der größeren Entfernung zum Peugeot schätzten sie die Situation als ähnlich riskant ein wie die Wagemutigen ihren wesentlich geringeren Abstand. Beide Charaktertypen empfanden die Risiken ungefähr gleich: Die forschen Fahrer, die dicht auffuhren, fühlten sich auf der Straße genauso sicher oder unsicher wie die vorsichtigen. So erreichten die Angaben beider Gruppen auf der Skala im Durchschnitt einen mittleren Wert von je 1,5. Ihr gefühltes Risiko war also gleich. Alle Testpersonen steuerten aus freien Stücken in Situationen hinein, die sie als »ein bisschen riskant« beurteilten.
Die Automobilindustrie ist gar nicht amüsiert über die Theorie der Risiko-Selbstregulierung. Im Licht dieser Idee erscheint die Sicherheitstechnik, eines ihrer wichtigsten Verkaufsargumente, mehr als fragwürdig.
45 Wilde, Gerald J.S.: »Target Risk 2«, Kingston 2001. Trimpop, Rüdiger: »Die Rolle des Risikos in der Arbeitssicherheit«, in: Zimolong, B. und R. Trimpop (Hg.): »Psychologie der Arbeitssicherheit«, Heidelberg 1991.
46 Interview des Autors mit Rüdiger Trimpop, September 2009.
47 Heino, Adriaan u. a.: »Risk Perception, Risk Taking, Accident Involvement and the Need for Stimulation«, in: Safety Science 22/1996.
» Mit dem Hintern fliegen « – die leidenschaftliche Affäre zwischen Mensch und Maschine
Juni 2007, in der Leitwarte des Kernkraftwerks Krümmel: Draußen brennt ein Trafo. Die Notstromsysteme funktionieren nicht, der Reaktor schaltet sich ab. Die Kühlpumpen fallen aus, Rauch dringt durch die Lüftungsschlitze. Computer haben Aussetzer, der Schichtleiter gibt missverständliche Kommandos, der Reaktorfahrer zieht eine Gasmaske über und verliert den Überblick. Er öffnet zwei Ventile und lässt explosionsartig den Druck im Kern entweichen – vorgesehen als letzte Maßnahme, um einen GAU zu verhindern. 140
Die Kommission, die der Betreiber Vattenfall einsetzt, um den Vorfall zu untersuchen, kommt zu dem Schluss: Die Technik habe »bestimmungsgemäß« funktioniert. Doch sei es zu »fehlerhaften Handlungen« gekommen. Die Experten – unter anderem Kernphysiker, Kommunikationsberater, Psychologen und ein Mann vom TÜV – empfehlen »Maßnahmen zur
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