Mut Proben
begeistert, wenn ihr Fachpersonal von »Intuition« oder »Gespür« redet.
Der Autobauer Frank T. müsste eigentlich eine Checkliste im Sekundentakt abarbeiten. Doch das würde er zeitlich nicht packen, sagt er. Er verlasse sich auf seine »Körpersignale«. Frank T. ist ungehorsam.
Im vertraulichen Gespräch gestehen Abteilungsleiter, Manager und Vorstände, dass auch sie »aus dem Bauch heraus« handeln; eigentlich sind sie stolz auf ihr »Gespür für kritische Situationen«. Es zeugt von unternehmerischem Mut. Offiziell aber gründen sie ihre Entscheidungen nicht darauf. Die Vorgänge in einem Unternehmen sollen dokumentierbar, objektivierbar, kontrollierbar sein.
»Wir glauben stark an Zahlen und Fakten«, sagt der Ingenieur eines Abgassystembauers. »Ich muss nachvollziehbar machen, wie ich schneller oder besser zu der einen oder anderen Lösung komme«, sagt der Projektleiter eines Herstellers von Chipfabriken. »Man muss immer so tun«, so ein Ingenieur bei einem Flugzeugteilehersteller, »als sei alles aus erklärbaren Gründen sachlich und logisch gelöst worden.«
Wildgänse in der Turbine
Das Misstrauen gegenüber situativem, intuitivem, erfahrungsgeleitetem Handeln wurzelt tief. Schon zu Beginn der Neuzeit, als sich die empirischen Naturwissenschaften entwickeln, wächst bei Philosophen und Forschern die Hochachtung vor dem wissenschaftlich-rationalen Verstand. Mit Skepsis beäugen sie seitdem den Rest des Menschen. Der Mathematiker René Descartes fordert die »Spaltung des Menschen«. Der Geist sei das »eigentlich Menschliche«, der Körper bloß »äußere Natur«. Der Haken dabei: Ganz ohne den Körper mit seinen wahrnehmenden Sinnen lassen sich selbst die am besten durchdachten Experimente nicht bewerkstelligen.
»Der Mensch muss umgebaut werden«, folgert Francis Bacon, ein philosophierender Zeitgenosse Descartes. »Er muss sich ändern, um den Anforderungen eines immensen Dienstes am Wissen überhaupt gerecht werden zu können.« Also unterzieht der unbestechliche Geist die unzuverlässigen Sinne einer kritischen Prüfung. Das Auge erhält die meisten Punkte.
So hat sich über die Jahrhunderte in allen Bereichen des Lebens, die mit Zahlen zu tun haben, eine kühle, analysierende Geisteshaltung durchgesetzt, assistiert vom abschätzigen Blick. Doch es regt sich Widerstand.
»Risiko«, sagt Vera von Dossow, Anästhesistin am Berliner Virchow-Klinikum, »ist für mich etwas Positives. Ohne Risiko keine Veränderung.« Die Siebenunddreißigjährige, eine drahtige Frau mit offenem Blick, leitet als eine von drei Oberärztinnen die Station für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Nirgendwo wird die Abhängigkeit des Menschen von hoch entwickelter Technik deutlicher als hier: Unfallopfer, Krebspatienten, Menschen mit schweren Lungenentzündungen sind verkabelt mit pumpenden, saugenden, gluckernden Maschinen. Wären sie still, wäre ein Leben zu Ende.
In einem Zimmer liegt ein junger Mann mit einer Schussverletzung durch Kiefer und Halswirbelsäule. Aus seinem Rachen führt ein Schlauch zu einem Beatmungsgerät neben ihm. Es schnauft regelmäßig, bis es plötzlich quäkt, ein Dreiklang wie von einer Melodika: Alarm. Weder die Schwester noch die Stationsleiterin noch die Oberärztin greifen ein. Von Dossow lächelt: »Die Maschine meint, der Mann ziehe zu viel Luft. Doch er hat große Lungen, er ist ein Bodybuilder.« Sie wendet sich an die Kolleginnen: »Wir sollten die Alarmschwelle erhöhen.«
»Wir arbeiten am oberen Limit dessen, was intensivmedizinisch möglich ist«, sagt die Ärztin. Und sie seien froh über jede technische Verbesserung. Aber nie verließen sie sich auf die Geräte. Die Automatik der Perfusionsapparate und Dialysegeräte wird permanent überprüft, immer wieder angeglichen, geändert, nachjustiert. »Routine«, sagt die Stationsleiterin, »ist der größte Feind.«
Zwei bis sechs Menschen sterben hier pro Monat. Ärzte und Pfleger sprächen offen über Fehler, sagen von Dossow und die Stationsleiterin Regine Reck. Mit den Jahren haben sie gelernt, die sechs verschiedenen Kurven auf einem Monitor mit einem Blick zu erfassen, sie spüren an der Haut eines Patienten, ob er kurz vor einem Kreislaufkollaps steht, den Grad seiner Schmerzen lesen sie an Mimik und Gestik ab – wegen des Tubus im Mund kann er nicht sprechen.
Was Reck und von Dossow tun, bezeichnen Piloten als »mit dem Hintern fliegen«. Sie brauchen die Maschine, aber sie steuern sie mit Gefühl. Manchmal
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