Mut Proben
weiteren Minimierung menschlicher Fehler«. Man solle auf die »Vermeidung nicht erforderlicher Handgriffe bei Störungen« achten.
Der Mensch als Fehlerquelle und Störfaktor. Einmal mehr. Titanic und Exxon Valdez, das ICE -Unglück in Eschede und die Transrapid-Katastrophe im Emsland, die Kernschmelze in Harrisburg und die Giftgaswolke über Bhopal – nach Unglücken an der Schnittstelle Mensch – Maschine lautet das Urteil meist: menschliches Versagen. In der Hightech-Szene kursieren seit Jahren Statistiken, wonach achtzig Prozent aller Störfälle der Mensch verursache. Diese Zahl sei bedeutungslos, sagt Gerhard Faber, Physiker und Automatisierungsforscher an der Technischen Universität Darmstadt. »Menschen tragen eigentlich immer die Schuld.«
Schließlich kommt die Technik ja irgendwoher. Der Mensch entwickelt das Regelwerk, das bestimmt, bei welchen Wetterverhältnissen ein Flugzeug starten darf. Er entscheidet, aus welchem Material Häuser in einem Erdbebengebiet gebaut werden. Er konzipiert die Dicke einer Betonhülle um einen Atommeiler und setzt ihn in Gang. Irgendeinen Schuldigen finde man immer, so Faber, wenn nicht den Operator im Kontrollstand, so einen Entscheider hinter den Kulissen. Viel interessanter ist für ihn die Frage: »Wie oft haben hoch qualifizierte Menschen in Notfällen, beim Versagen technischer Systeme mit ihrer Kreativität Unfälle vermieden?«
Die meisten Kognitionswissenschaftler und Hightech-Entwickler betonen die Unberechenbarkeit des Menschen, seine beschränkte Vernunft und seine Emotionalität. Sie fordern »mehr Automatisierung«, nach dem Motto: Die Technik funktioniert, der Mensch nicht. Faber fordert dagegen eine menschzentrierte Technik: »Der Mensch soll die Maschine nicht einfach nur bedienen, sondern beherrschen.«
Die Forschungen des Sozioökonomen Fritz Böhle vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München bestätigen ihn. »Großtechnische Anlagen werden viel mehr vom menschlichen Gefühl und Gespür gesteuert, als wir wahrhaben wollen«, sagt Böhle. Statt weiter auf der »Fehlerquelle Mensch« herumzuhacken, sollten wir lieber die »verborgene Intelligenz des Menschen« ins Rampenlicht rücken – das sogenannte Erfahrungswissen.
Unter Böhles Leitung hat ein Kreis von Organisationssoziologen und Arbeitspsychologen sich auf die Suche nach diesem versteckten Wissen gemacht. Bei Facharbeitern in hoch automatisierten Fabriken wurden sie fündig. Sie begegneten einem assoziativen, unbewussten Denken und Fühlen im Umgang mit der Maschine. Es ist ebenso geheimnisvoll wie erfolgreich.
Die Anlage laufe eigentlich nie »nach Strich«, erzählen Mitarbeiter in hellen, sauberen Fertigungshallen, wo wenige Menschen und viele Roboter Automotoren zusammenschrauben, Flugzeugleitwerke verschweißen, Unkrautvernichtungsmittel zusammenrühren oder Computerchips backen. Die Maschinen hätten ein »Eigenleben«, zuweilen »spinnen« sie. Wenn man gegensteuere, müsse man »ihre Reaktion abwarten«, gegebenenfalls »mit ihnen kämpfen«. Es klingt wie auf einem Abenteuerspielplatz.
Hier sind keine »sachlich-rational handelnden Experten am Werk«, so die Sozioökonomin Nese Sevsay-Tegethoff. Sondern »versteckte Künstler, Artisten und Jongleure, die mit Maschinen sprechen«, die »toten Objekten eine quasi-soziale Dimension« zugestehen. Sie spüren und hören, ob etwas »rund« und »harmonisch« läuft. Alltägliche kleine Unregelmäßigkeiten würden sie »vorausahnen« und zeitig korrigieren.
Frank T., seit zwanzig Jahren Facharbeiter bei einem Autozulieferer, prüft Kühlerhauben. Mit einem Blick, sagt er, könne er sehen, ob alle Schweißnähte millimetergenau korrekt säßen, er fühle mit der Hand, ob sie hielten, höre schon beim Eintauchen der Haube ins Wasserbecken, ob sie fehlerhaft klinge.
»Jede Anlage hat ihre eigene Melodie« – diesen Satz hörten die Forscher oft. Manche Facharbeiter, sagt Böhle, »haben für die Geräusche einer Anlage so viele Worte wie Eskimos für Schnee«.
Und doch erfährt man wenig von diesen Künstlern. »Sie liefern hohe Qualität«, sagt Matthias Rötting, Professor für das Fachgebiet Mensch-Maschine-Systeme an der Technischen Universität Berlin. »Aber es fällt ihnen schwer zu beschreiben, was sie wahrnehmen. Diese Experten können ihre Erfahrung selten explizit machen.« Allerdings wird ihr »implizites« Wissen in Betriebshandbüchern und Ausbildungsleitfäden auch totgeschwiegen. Chefs sind wenig
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