Mut Proben
darf schon von ganz oben starten, weil er alles richtig macht: liegt waagerecht unterm Segel, die Beine geschlossen, schiebt das Trapez rechts raus, neigt sich in eine Linkskurve, rollt zurück in die Gerade, nähert sich dem Boden, drückt kurz vor dem Kontakt die Stange raus, der Drachen bäumt sich auf, landet genau zwischen den beiden Hütchen. »Perfekt«, flüstert Wolf. Er wendet sich uns zu, die staunend am Hang hocken: »Das ist sein zweiter Tag!«, ruft er vergnügt. »Solch einen Streber, den hätten wir früher in der Schule verhauen.«
Der Klima, Paul, muss man dazu sagen, hat Vorkenntnisse. Er kann schon Gleitschirmfliegen. »Ich beschäftige mich seit fünfundzwanzig Jahren mit Vögeln«, sagt er, »da ist es eine Frage der Zeit, bis man selber fliegt.« Als Dreizehnjähriger hat er in der Falknerei in seinem Heimatdorf ausgeholfen, nebenan starteten Gleitschirmflieger von einer Rampe, irgendwann lief er selbst drüber. Unseren Lehrgang besucht er »gewissermaßen dienstlich«. Er macht sich fit für einen Film mit dem Titel Der Schrei des Adlers.
2013 soll er ins Kino kommen, für die Hauptrolle ist Benno Führmann im Gespräch. Die Handlung: Ein »Glitschie« stürzt im unwegsamen Gelände mit seinem Schirm ab, trifft dort auf einen Jungadler, der von seinem Bruder aus dem Nest gestoßen wurde. Der Mensch päppelt den tierischen Leidensgenossen auf, zum Dank zeigt der Adler seinem neuen Freund, wie Fliegen wirklich geht: nämlich in Bauchlage in Vogelperspektive unter einem Drachen – und nicht im Sitz an einem Gleitschirm baumelnd.
Die Glitschies wird der Film erzürnen. Den Drachenfliegern wird er einen Boom bescheren und Paul einen lukrativen Job. Der Falkner kümmert sich als Tiertrainer um zwei Steinadler: einen jungen, der zu Beginn des Films seinen menschlichen Retter trifft – und erst demnächst in Pauls Falknerei schlüpfen soll; und einen ausgewachsenen mit zwei Meter Spannweite, der später seinem Kumpel ein paar Tricks zeigen wird – und bereits trainiert wird. Beim Drehen in den Alpen soll Paul die Adler in der Luft dirigieren und ab und zu den Hauptdarsteller doubeln. Darum muss er mal eben schnell Drachenfliegen lernen. Paul ist Pragmatist. »Ich habe keinen Traum, sondern einen Job.«
Daniel, der Sänger, wirkt ein bisschen verkrampft. Wenn er losrennt, wirft er den Kopf in den Nacken und hebt aufrecht ab, ans Trapez geklammert, statt sich vogelgleich in die Waagerechte zu schwingen. Die Konzentration unmittelbar vor dem Start, sagt er, sei ähnlich wie vor einem Konzert. Aber während er für einen Auftritt daheim schön üben könne, springe er hier ins kalte Wasser. »Jetzt lass mal locker«, sagt Wolf. »Freu dich einfach aufs Fliegen.«
Der schwere Jürgen dagegen wirkt zunehmend erleichtert. Wolf erlaubt ihm, ein paar Schritte höher zu steigen: »Du startest so schön gerade.«
Hängen im Holunder
Am Tag darauf gesellen sich zwei Studenten zu uns. Sie wohnen in derselben WG in München, sind beide weißblond, studieren Maschinenbau und entpuppen sich beide als Naturtalente. Michi hat früher mit Begeisterung Modellflugzeuge geklebt. Der kleine Helmut hat aus Cornflakes-Schachteln Flügel mit konvexer Wölbung gebastelt und ist durch den Garten gerannt.
Siebzig Prozent der Drachenflieger, doziert Wolf, seien Genussflieger. »Die gehen hinterher ins Wirtshaus und freuen sich.« Die meisten der übrigen dreißig Prozent wollen Strecke machen, versuchen mit einem Flug hundert Kilometer und mehr zurückzulegen. Die dritte, ganz kleine Kategorie stellen die »Akroflieger«, die Akrobaten. »Zu diesen Durchgeknallten«, sagt er Helmut und Michi halb anerkennend, halb sorgenvoll, »gehört ihr.«
In Deutschland drehen kaum mehr als eine Handvoll Drachenflieger Loopings. Wolf war einer von ihnen, bis ihn vor acht Jahren die Geburt seines Sohnes zügelte. Das Draufgängertum wich der Sorge um ein neues Leben: »Mein Junge macht mir Angst«, sagt er. »Der will nichts anderes als fliegen.«
Er weiß genau, was das bedeutet. Am 30. April 1973 sitzt der zweiundzwanzigjährige Wolf Schneider auf dem Sofa seiner Eltern im Sauerland und schaut gebannt einen Fernsehbericht über den »verrückten Amerikaner«, der mit einem Stück Stoff, das er aus einem Zelt geschnitten hat, von der Zugspitze springt. Tags darauf besorgt sich Wolf dessen Telefonnummer. »Es hat mich derart fasziniert«, erzählt er, »mit diesen einfachen Mitteln zu fliegen.«
Ein paar Monate später steht der
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