Mut Proben
junge Wolf mit dem »Vogelmenschen«, wie ihn die Presse nennt, auf einem zwölfhundert Meter hohen Berg in den Dolomiten und schaut hinunter ins Pustertal. Sein Held, Mike Harker, findet, Übungshänge seien zu gefährlich, da würde man nicht ordentlich abheben und grässlich stürzen. »Ich hatte da oben Angst«, bekennt Wolf, »ich wusste nicht, was kommt.« Er wusste allerdings: wenn nicht jetzt, dann so bald nicht wieder. Nach zwei Schritten ist er in der Luft. Schiebt die Stange nach links, nach rechts, wie Harker es ihm gezeigt hat. Der Drachen gehorcht.
Mit zwei Gefährten, die das Himmelfahrtskommando ebenfalls wagten, sitzt Wolf abends heil und glücklich im Wirtshaus und beschließt, Fluglehrer zu werden. »Wir fanden, dieses Gefühl müssen alle Menschen mal erlebt haben. Diese Euphorie und diese Angst – das geht in Wellenlinien hin und her.«
Von da an fährt Wolf mit seiner Ente von Berg zu Berg, ins Verdeck hat er ein Loch geschnitten, da ragt sein Drachen raus. Einmal kippt der Drachen, er beginnt zu flattern, und Wolf stürzt aus vierhundert Meter Höhe in einen Wald. »Mischwald«, erinnert er sich und an den ersten Gedanken, den er wieder denken konnte: »Scheiße, Drachen kaputt.« Er hatte Glück. Von fünfzig Piloten Mitte der Siebzigerjahre verunglückten zehn tödlich.
Behörden und Krankenkassen finden das nicht okay und beauftragen Aerodynamiker. Die hängen Siebzig-Kilo-Sandsäcke an verschiedene Konstruktionen, werfen sie von Brücken und optimieren die Flugeigenschaften. Heutige Drachen fliegen weitgehend stabil. Brenzlig wird es nur bei ganz extremen Manövern, oder wenn man sich extrem dämlich anstellt.
»Ja, Carsten, das war jetzt grenzwertig«, dröhnt es durch den Helm, »haste selbst gemerkt.« Ich starre auf die übermannshohe Grasnarbe vor mir, auf dessen Scheitel kleine Skifahrer im Winter hochgleiten. Aber es wird langsam besser. Am Nachmittag des zweiten Tages ziehe ich das Trapez lange unter mich, gleite weit bis vor die Hütte, drücke erst im letzten Moment raus und lande sanft auf den Füßen. In mir kribbelt etwas, während ich mich ausklinke und um den Drachen herumlaufe, als suchten kleine Bläschen aus dem Bauch einen Weg hinauf in Brust und Arme. Ein irres Lachen platzt heraus. Ich höre, wie Wolf zu den anderen sagt: »Den haben wir. Der hört nicht mehr auf.«
Am vierten Tag sackt entgegen der Prophezeiung niemand schreiend zusammen und hält sich einen gezerrten Oberschenkel. Aber es beginnt zu ziepen. Ich habe den Verdacht, dass das weniger am Runterrennen als am Raufkraxeln liegt, mit dem rumpelnden Drachen im Schlepp. Überhaupt ist heute bei mir der Wurm drin, kein Flug klappt perfekt. Michi und Helmut brummt der Schädel; die beiden haben gestern Abend auf dem Oktoberfest beim Schottenhamel auf den Tischen getanzt und dabei »definitiv ein paar Maß zu viel gekippt«. Das hindert sie aber nicht daran, 1A-Flüge hinzulegen. Sie würden gern ein bisschen weiter fliegen, mal zur Nachbarwiese oder so.
Ein Neuer ist eingetroffen, Berliner. Quasselt unentwegt und geht mir ein bisschen auf die Nerven. Bis er mit einer Flügelspitze im Holunder hängen bleibt. Dreht sich um hundertachtzig Grad, kracht ins Gehölz, unter ihm gähnt die Drachenschlucht. Er wirkt ein bisschen blass, als wir ihn aus den Ästen pflücken, zwei Holme sind krumm. »Ick setz ers ma aus«, sagt er. Und schweigt.
Weit oben kreisen zwei Störche. Ob die wohl Spaß haben? »Ich glaube schon«, sagt der Falkner. »In Venezuela«, fällt Wolf ein, »warten die Geier schon morgens neben der Rampe und begleiten uns. Als wollten sie zeigen, dass sie es besser können.« Von Frühling bis Herbst arbeitet Wolf fünfzehn bis sechzehn Stunden täglich für seine Flugschule. Die übrigen fünf Monate des Jahres verbringt er in der Luft über den besten Aufwindgebieten der Welt – Lanzarote, Chile, Türkei, Andalusien. Ein Besessener.
Der Imam und die Kellnerin
»Schaut mal, was da für Kumulus am Himmel sind«, ruft er. »Das ist der Wahnsinn, wenn du da jetzt hinfliegst, geht’s ab nach oben.« Schönwetterwolken, lernen wir, sind Wegweiser, sie zeigen Thermik an. Aber wehe, sie formen sich zu blumenkohlartigen Gewitterwolken um. »Die saugen einen förmlich auf.« Ein Freund sei erst in zehn Kilometer Höhe wieder ausgespuckt worden. Ohne Segel. Das haben ihm die gewaltigen Turbulenzen zerfetzt, nur noch das Gestänge war übrig. Der Mann wollte die Reißleine für den Rettungsschirm
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