Mutiert
das Virus zurückgezogen hatte. Am liebsten würde er die vergangenen Wochen aus seinem Gedächtnis streichen, doch sie hatten sich in sein Hirn eingebrannt wie ein Brandeisen in die Flanke eines Pferdes. Zwischen Schmerzen und Apathie, zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Tod und Leben war er hin- und hergerissen, aber er hatte überlebt. Entgegen sämtlicher Einschätzungen der Ärzte hatte er gekämpft und war als Sieger aus diesem Kampf hervorgegangen. Zurück blieb nur der Schmerz über den Verlust seiner Freunde, mit denen er in den letzten drei Jahren sein Leben geteilt hatte. Anna, Leon und Pieter waren qualvoll gestorben, und er hatte nichts für sie tun können.
» Der Psychologe will Sie noch sehen, bevor Sie das Krankenhaus verlassen dürfen«, riss ihn die Schwester aus seinen Gedanken. Sie hatte inzwischen das Blut in kleine Päckchen verpackt und die Päckchen mit Adressenaufklebern versehen.
» Was machen Sie damit?«, fragte Jean.
» Zwei Pakete gehen an ein Labor in Belgien, eines nach Genf und ein weiteres direkt nach Amerika.«
» Amerika?«
» Nach Atlanta«, erklärte die Krankenschwester. » Dort wird derzeit an der Entschlüsselung des Jatapu-Virus gearbeitet. Die haben dort Speziallabore, um aus Ihrem Blut ein Serum herstellen zu können.«
» Ein Serum?«
» Wenn wir Glück haben, dann kann daraus ein wirksames Medikament gegen die Krankheit gewonnen werden.«
Der junge Mann zog sich seine Jacke über. » Dann war es vielleicht nicht ganz umsonst, dass ich überlebt habe.«
» Das will ich doch meinen«, antwortete die Schwester. » Und jetzt gehen Sie zu Doktor Heinken, er erwartet Sie bereits.«
36
Am Rio Jatapu, Amazonasgebiet
Bis die Dunkelheit angebrochen war, verging weniger als eine halbe Stunde, und schon bald wurde die kleine Gruppe von der Schwärze der Nacht eingehüllt.
Eine weitere mondlose Nacht im dichten Urwald nahe des Rio Jatapu war angebrochen, doch selbst das Mondlicht hätte das dichte Blattwerk der Bäume nicht durchdringen können. Das Laubdach ließ selbst den hellen Tag zur schummrigen Dämmerung werden. Nur dort, wo das Licht zum Boden vordringen konnte, explodierte die Natur und brachte unzählige verschiedenartige Blüten hervor, deren bunte Farbenvielfalt tausende von Schmetterlingen und andere Lebewesen anlockte, die sich an dem Nektar der Pflanzen labten.
Obwohl sich die Augen der Flüchtenden an die Dunkelheit gewöhnt hatten, passierte es immer wieder, dass einer von ihnen über Wurzelwerk oder niederes Buschwerk stolperte. Den Gefangenen führten die Soldaten sicher verschnürt mit sich. Luisa hatte die Pause gutgetan, außerdem waren die Temperaturen bei Anbruch der Nacht auf angenehme 22 Grad gefallen. Kurz vor Mitternacht hallten Schüsse durch den Wald. Das Geschrei von Affen und das laute Gezeter der Vögel überlagerten das ferne Grollen, dann kam der Regen über das Land.
» Wir sollten rasten«, stöhnte Lila.
» Wir marschieren weiter«, erwiderte der Cabo.
» Wir laufen jetzt bereits seit acht Stunden durch diesen Wald, und es scheint, dass er überhaupt kein Ende nimmt.«
» Wie weit sind wir von Farraz entfernt?«, mischte sich Rosburn in die Unterhaltung ein.
Der Cabo überlegte. » Fünf bis sechs Kilometer, schätze ich. Trotzdem gehen wir weiter. In vier Stunden geht die Sonne auf, und dann wird es wieder unbarmherzig heiß hier. Wir müssen die Dunkelheit nutzen. Farraz verlässt sich auf uns.«
» Wie lange brauchen wir noch bis nach Brás?«, fragte Lila.
» Zwei Tage, wenn wir weiterhin so gut vorankommen«, antwortete der Cabo. Schließlich blieb er stehen, schaltete die kleine Taschenlampe ein und schaute auf die Karte. Vor ein paar Stunden waren sie nach Norden eingeschwenkt und hatten den kleinen Seitenarm des Flusses hinter sich gelassen. Das Gelände stieg zunächst sanft an, bis es schließlich wieder abfiel und dann in einer weiten Ebene auslief.
» Wir sind hier«, sagte er zu Rosburn und wies auf die Karte. » Wenn wir in dieser Geschwindigkeit weitermarschieren, dann schaffen wir es bis zu dieser kleinen Lichtung. Dort werden wir rasten und essen, bevor wir weitergehen.«
» Sie sind unser Führer«, antwortete Rosburn. » Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, was Sie tun.«
» Das können Sie mir glauben«, antwortete der Cabo.
Cuiabá, Bundesstaat Mato Grosso
Noch am Abend des gleichen Tages hatte Zagallo veranlasst, dass die Kollegen aus Campo Grandé das Waisenhaus Santo Amaro do Guimero unter die
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