Mutproben
wie man bei uns so schön sagt, ich hatte Blei im Mors. Meine Mutter meinte, das sei mein Mecklenburger Naturell. Wo der Mecklenburger sitzt, da sitzt er eben und bewegt sich nicht gern weg. Mit Veränderungen tue ich mich tatsächlich schwer. Das ist heute so, und so war es auch damals schon. Nur drei Mal bin ich in meinem Leben umgezogen. Das letzte Mal vor zweiundzwanzig Jahren, das erste Mal mit zwanzig, als meine Mutter mich freundlich, aber bestimmt aus dem Elternhaus komplimentierte.
Denn eigentlich wollte ich nicht ausziehen. Ich fühlte mich wohl zu Hause, dort draußen bei uns im Duvenstedter-Brook. Und ich hing an meinen Eltern. Ich hatte meinen VW-Käfer, ich war unabhängig und schon mit achtzehn viel unterwegs. Nach dem Abitur – und nachdem ich bei der Bundeswehr ausgemustert worden war – hatte ich einen Aushilfsjob bei der CDU-Fraktion im Rathaus, aber ich war auch immer froh, abends wieder nach Hause zu können und meine Ruhe zu haben. Doch meine Eltern kannten diese Neigungen zum Alleinsein und zum verträumten In-den-Tag-leben nur zu gut. Und sie beschlossen, wie schon damals bei meiner Früheinschulung, mich mit sanftem Druck ins wahre Leben zu schubsen: »So, nun reicht es«, sagte meine Mutter eines Tages. »Nun musst du mal raus, Junge!«
Da stand ich also und musste mich allein organisieren. Weit
weg wollte ich nicht sein von Zuhause, aber ganz in der Nähe zu bleiben, das machte irgendwie auch keinen Sinn. Also suchte ich mir etwas in Wandsbek. Das kannte ich, das war mir vertraut durch meinen Vater und durch die Ausflüge mit meiner Mutter, wenn wir zum Einkaufen fuhren. Ich fand eine kleine Wohnung für 230 Mark. Das war zwar viel Geld damals, aber auf eine Wohngemeinschaft hatte ich keine Lust und meine Unabhängigkeit war mir das Geld wert. Und plötzlich wohnte ich mittendrin. Gleich um die Ecke der große Supermarkt, abends konnte ich guten Gewissens auch mal ein Bier trinken, ohne gleich ins Auto steigen zu müssen und zehn Kilometer zu fahren. Man musste mich zu meinem Glück wohl immer auch etwas zwingen. Aber dann fand ich es toll und genoss es.
Ich studierte also Jura. Seitdem ich als Kind das Strafgesetzbuch entdeckt hatte, wollte ich nichts anderes. Ich wollte später als Rechtsanwalt arbeiten, eigene Mandanten haben, im Gericht auftreten und flammende Verteidigungsreden halten. Doch irgendwie lief das Studium nicht so wie gedacht. Oder anders: Es lief nur nebenher. Zu sehr war ich mittlerweile in das politische Tagesgeschäft eingebunden. Ich war schon früh in die Bürgerschaft gewählt worden, mit Anfang zwanzig. Und mit den Diäten konnte ich mir das Studium gut finanzieren. Ich brauchte meinen Eltern nicht auf der Tasche zu liegen, konnte mir die Wohnung und mein eigenes Auto selbst leisten.
Ich hatte nie den Plan, in die Politik zu gehen, um Berufspolitiker zu werden. Doch Politik ist unheimlich verführerisch.
Relativ schnell bekam ich Anerkennung. Plötzlich tauchte ich in Zeitungen auf, wurde zitiert, gab erste Interviews. Und ich hatte bald das Gefühl, tatsächlich etwas mitbestimmen zu können. Ich wurde in den Landesvorstand der Jungen Union gewählt und später dann auch zu ihrem Vorsitzenden. Die Junge Union hatte damals sechstausend Mitglieder, und in dieser Welt war ich plötzlich der König.
Die Versuchung war also durchaus groß, sich vom Lernen ablenken zu lassen und von den Misserfolgen, die Klausuren hin und wieder mit sich bringen. Die Politik hingegen konnte einem schnell das Gefühl vermitteln, man hätte etwas zu sagen, ohne eine hohe fachliche Qualifikation zu benötigen. Das Studium war längst nicht so befriedigend wie der Pseudoruhm der Politik, und so wurde letzterer schnell verführerisch für mich. Es ist eine faszinierende Welt, die einen da für sich einnimmt, gerade wenn man jung ist. Und einige meiner politischen Kollegen haben ihr Studium deshalb ebenfalls nie zu Ende gebracht. Wenn ich heute aber noch einmal starten könnte, dann würde ich sagen: aus Hamburg weg und auch mal ein Jahr ins Ausland gehen. Denn durch die Politik war ich immer automatisch an Hamburg gebunden.
Doch ich betrieb Politik nicht wegen der Aufmerksamkeit. Für mich stand vor allem Inhaltliches im Vordergrund. Schon in der Schülerunion hatte ich mich darin gut testen können. Neben dem Marxismus beschäftigte mich nämlich die Schulpolitik sehr stark. Ich war gerade mal zwanzig Jahre alt und Vorsitzender der Schülerunion und führte einen groß
angelegten
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