Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
vorschlagen, eine Unterstützung für sie zu suchen.
Zwei Wochen später. Ich bin mal wieder mit Lena beim Kinderturnen. Plötzlich klingelt mein Handy und reißt mich aus meinen Gedanken. Schnell nehme ich es aus der Tasche und verschwinde unter den tadelnden Blicken der Turnlehrerin in der Umkleidekabine. Mein Vater meldet sich und bittet mich zu kommen. Meine Mutter ist wieder hingefallen.
Ich frage eine Bekannte, ob sie Lena mit nach Hause nehmen kann, und mache mich auf den Weg. Es ist mir sehr unangenehm, andere Leute so spontan um einen Gefallen zu bitten. Aber in diesem Moment habe ich keine bessere Idee. In den drei Minuten Fahrzeit zu unserem Haus telefoniere ich noch schnell mit Jens, der gerade in München ist. Er versichert mir, sich in Kürze auf den Heimweg zu machen, damit er sich um Lena kümmern kann.
Zu Hause angekommen finde ich meine Eltern im Wohnzimmer. Meine Mutter hat ganz offensichtlich Schmerzen. Ich eile zu ihr, setze mich neben sie auf den Boden und nehme ihre Hand.
»Mutti, was ist denn passiert?«
Mein Vater sieht mich bedrückt an und berichtet: »Ich krieg sie nicht mehr auf den Sessel, weil sie sich nicht anfassen lässt.«
»Du bist lustig«, sagt meine Mutter gequält. »Mir tut der Rücken so weh. Ich kann nicht aufstehen.«
Ich versuche erst gar nicht, ihr dabei zu helfen, sondern rufe gleich den Rettungsdienst, der sie ins Krankenhaus bringt. Mein Vater und ich fahren mit dem Auto hinterher. Ich kann sehen, dass er mit ihr leidet. Hoffentlich kommt Jens rechtzeitig heim, schießt es mir durch den Kopf. Es wäre blöd, wenn Lena vor verschlossener Tür stünde.
»Altwerden ist scheiße!«, meint Vater plötzlich in die Stille hinein.
»Ja!«, antworte ich.
Mehr fällt mir dazu nicht ein.
Diagnose Demenz
Die Ärzte im Krankenhaus machen ihre Arbeit gründlich. Recht schnell stellen sie eine Rippenfraktur fest. Nachdem meine Mutter nicht sagen kann, wieso sie hingefallen ist, und sich herausstellt, dass ihr das schon öfter passiert ist, machen sie gleich noch ein CT von ihrem Kopf.
Am nächsten Tag fahre ich mit Lena und Jens zu Besuch ins Krankenhaus. Meine Mutter sitzt mit meinem Vater in ihrem Zimmer und empört sich gerade belustigt darüber, dass sie »so dumme Aufgaben wie Uhren lesen« lösen musste.
»Ob die Ärzte wohl glauben, ich habe nicht mehr alle im Oberstübchen?«, fragt sie mich später.
Ich erfahre, dass mit dem Uhrentest, bei dem der Patient fehlende Ziffern in einen vorgezeichneten Kreis eintragen soll, die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen überprüft werden können, das heißt, die Signale der Umwelt wahrzunehmen und weiterzuverarbeiten. Mithilfe des Tests kann man Hinweise auf eine beginnende Demenzerkrankung erhalten.
Mein ältester Bruder ist gerade gekommen, die Oberärztin bittet uns beide zu einem Gespräch ins Ärztezimmer. Sie redet nicht lange um den heißen Brei herum: »Ihre Mutter leidet unter beginnender Demenz. Eine vaskuläre Demenz. Das bedeutet, dass es Durchblutungsstörungen im Gehirn gibt, die eine Demenz auslösen.In den Röntgenbildern ist das gut zu erkennen.«
Sie erklärt uns anhand des Röntgenbildes die sichtbare Veränderung im Gehirn meiner Mutter. Wir haben natürlich noch keine Ahnung von der Krankheit und fragen nach. Die Ärztin erläutert, was es für einen Mensch bedeuten kann, wenn er Stück für Stück seine Fähigkeiten verliert.
»Ihre Mutter hat bereits Wortfindungsprobleme. Das Sprachzentrum ist von der Krankheit betroffen. Ihre Gleichgewichtsstörungen kommen ebenfalls daher. Sie werden sich Gedanken darüber machen müssen, wie Sie später damit umgehen, wie Sie Ihr Leben und das Ihrer Mutter organisieren können«, sagt sie.
Die Oberärztin kann nicht voraussagen, wie genau der Krankheitsverlauf sein wird. Wann welche Phase der Krankheit eintritt und vor allem, welche Bereiche des Gehirns betroffen sein werden. Das ist bei jedem Menschen individuell verschieden.
Jetzt bekomme ich Angst. Das Versprechen, dass keiner der beiden je in ein Heim muss, haben sich unsere Eltern einander quasi schon zur Hochzeit gegeben. Aber mein Vater ist gar nicht in der Lage, für sie zu sorgen. Er kann weder kochen noch will er sich um andere Dinge im Haushalt kümmern. Seit einiger Zeit sieht er auch sehr schlecht und wirkt dadurch zunehmend depressiv. Ich muss die Dinge ansprechen.
Ich nehme mir vor, nicht nur meinen Vater, sondern auch meine Mutter in absehbarer Zeit in diese Gedanken mit einzubeziehen.
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