Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
Mehrere Rehakliniken habe ich dazu vorgeschlagen. Früher haben meine Eltern gern Urlaub gemacht, doch meine Mutter reagiert nur noch mit Ablehnung. »Nein, ich will zu Hause sterben. Ich fahre nirgends mehr hin«, ist ihre Standardantwort. Mein Vater sitzt daneben, und ich kann sehen, wie enttäuscht er ist. Er würde sehr gern nach einem Stückchen Lebensqualität greifen. Erst neulich hat er vorgeschlagen, das Schlafzimmer neu einzurichten. Aber auch das will meine Mutter auf keinen Fall. »Das lohnt sich für uns nicht mehr«, ist ihre Antwort. Es spielt keine Rolle, was Vater oder ich vorschlagen, in Mutters Augen lohnt sich überhaupt nichts mehr.
Die Sprachfähigkeit meines Vaters hat sich dank der logopädischen Behandlung verbessert, mit diversen Hilfen meistert er auch seine Sehschwäche. Meine Mutter hingegen schließt mit ihrem Leben ab – zumindest sieht es nach außen so aus.
Eines Tages empfängt sie mich im Treppenhaus mit einem Karton, in dem sich ihre Weihnachtsdekoration befindet.
»Aber, Mutti, jetzt ist doch Sommer. Was willst du denn mit den Weihnachtssachen?«, frage ich sie.
»Hier, Martina. Nimm du sie. Ich brauch sie nicht mehr«, entgegnet sie bestimmt. »Nächstes Weihnachten musst du ohne mich feiern«, und schon kullern wieder Tränen aus ihren Augen.
Oh nein! Das kann ich jetzt überhaupt nicht brauchen. Lena ist schon nach oben geflitzt und veranstaltet bereits einen Höllenlärm in der Küche.
»Lass uns wann anders darüber reden«, bitte ich sie. »Ich komm später mal vorbei.«
Ich lasse sie im Treppenhaus stehen, mit ihrem Weihnachtskarton auf dem Arm. Dabei habe ich einen unangenehmen Druck in der Magengegend. Nie kann ich allen gerecht werden. Es tut mir leid, wie sie da steht. Ich weiß, dass ich mich jetzt eigentlich um sie kümmern müsste. Aber wie? Ganz sicher bräuchte ich jetzt mehr Zeit für meine Mutter. Gleichzeitig wartet Lena auf mich.
Und dann gibt es noch die vielen Dinge, die auf meiner Liste stehen, die völlig zu kurz kommen. Zeit mit Jens habe ich kaum noch. Das Pferd besuche ich im Eilverfahren, und meine Freunde sehe ich auch nur noch sporadisch. Heute Nachmittag habe ich zudem einen Termin mit der Grundschullehrerin. Lena steht im Verdacht, unter ADHS zu leiden. Ihre schulischen Leistungen entsprechen nicht den Erwartungen der Lehrer. Der Termin beim Psychologen hat den Verdacht bestätigt, gleichzeitig wurde Lena Dyskalkulie, auch Rechenschwäche genannt, bescheinigt. Ich jedoch bin eher der Ansicht, meine Tochter passt nicht in die Schublade, in welche die Lehrer sie gern stecken würden. Deswegen versuche ich seit Monaten, sie in einer Montessorischule in der Nähe unterzubringen. Aber leider nimmt die Schule sie aus uns unbekannten Gründen nicht auf. Ich habe Briefe geschrieben, Lehrer kontaktiert und sogar einen Schulpsychologen über uns ergehen lassen. Was muss eigentlich noch alles schiefgehen?
Und nun steht da meine Mutter und will mir erklären, dass sie demnächst stirbt, und verteilt großzügig ihre Sachen. Hat sie ihren Mann dabei ganz vergessen? Wie kann sie nur so leichtfertig mit ihrem Ableben umgehen? Merkt sie denn nicht, dass mich die Sache hier an diesem Ort, auf der Treppe, fast umhaut? Wahrscheinlich meint sie gar nicht, was sie da sagt.
Ich schiebe den Gedanken energisch zur Seite, gehe nach oben und sehe nach meiner Tochter. Jens ist im Büro und kann sich heute Nachmittag um Lena kümmern. So habe ich wenigstens von dieser Seite keinen Druck und kann meine Termine wahrnehmen.
An diesem Tag gelingt es mir nicht, die Traurigkeit und das Leid meiner Eltern zu vergessen. Die halbe Nacht über liege ich wach im Bett. Jeden Tag, an dem ich an ihrer Wohnungstür vorbeigehe, höre ich Dinge, die ich nicht hören will. Wie kann ich für mich Ruhe finden? Es ist fast so, als ob ich den Frust meiner Eltern vor ihrer Tür aufsauge und in mein Leben mit nach oben nehme. Über den Gedanken und der Gewissheit, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, eine Wohnung in der Nähe meiner Eltern zu mieten und nicht im selben Haus zu wohnen, schlafe ich dann doch irgendwann ein.
Rapider Abbau
Wieder gehen Monate ins Land, der lange Winter ist vorbei. Endlich ist es Frühling. Die ersten warmen Sonnenstrahlen locken meine Tochter und mich in den Garten. Gleich nach dem Mittagessen springt Lena die Treppen hinunter und rennt zu der Schaukel, die am Ende des umzäunten Grundstückes steht. Nachdem es nach einer langen Regenphase ein paar
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