Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
schlimmer, denke ich. Die Situation wächst mir über den Kopf. Ich steige aus dem Auto aus, gebe dem Fahrer ein Zeichen und eile zurück ins Haus.
Mein Vater sitzt am Esszimmertisch und trinkt den Rest seines Kaffees. Als er mich sieht, sagt er: »Martina! Es tut mir so leid, dass du das alles aushalten musst. Besser wäre es, wenn wir alle tot wären.«
Die Worte bleiben im Raum stehen. Was soll ich dazu sagen? Etwa, dass ich nichts aushalten muss? Oder dass sie bitte noch viele Jahre leben sollen? Nein, ich kann nicht lügen. Das konnte ich noch nie besonders gut. So versuche ich einen Kompromiss.
»Wir alle müssen etwas aushalten. Du doch auch!«, tröste ich ihn. »Und wann wir sterben, liegt nicht in unserer Hand.«
Aufgewühlt fahre ich zur Arbeit.
Gegen fünf Uhr am Nachmittag wird meine Mutter wiedergebracht. Sie ist völlig durcheinander. Es ist ganz offensichtlich, dass es ihr in der Tagesstätte nicht gefallen hat. Mein Vater indessen hat den ganzen Tag geschlafen. Im Bett, auf der Couch und auf der Terrasse. Sein Bedürfnis an Schlaf war an diesem Tag grenzenlos.
Tessa nimmt mich zur Seite und raunt mir zu: »Lange hält dein Vater das nicht mehr aus. Er ist so erschöpft.«
Das ist mir selber schon aufgefallen, aber ich habe nicht mehr viele Ideen, wie ich es ändern kann. Er sucht ja förmlich den Konflikt mit meiner Mutter. Ständig sitzt er neben ihr, lässt sie keine Minute allein, schiebt sie in der Wohnung herum und redet ununterbrochen mit ihr. Kaum ist sie mal eingeschlafen, geht er zu ihr und spricht sie an, um dann völlig überrascht zu sein, dass sie jetzt aufgewacht ist. Ich habe schon ein paarmal mit ihm darüber gesprochen, aber er versteht mich nicht. Oder er will mich nicht verstehen.
»Und ich kann auch nicht mehr!«, fährt Tessa fort.
Erschrocken sehe ich sie an. »Wie meinst du das?«, frage ich. Samanta ist doch jetzt da, um sie zu entlasten.
»Ich höre auf. Bitte such einen Ersatz für mich.«
Schon seit geraumer Zeit fällt mir auf, dass es ihr immer schwerer fällt, freundlich und fröhlich zu sein. Eigentlich kein Wunder bei der Stimmung im Haus. Es gibt kaum Momente der Freude oder der Genugtuung. Abgesehen davon ist die körperliche Belastung der Pfleger hoch. Durch die wachsende Unbeweglichkeit hat meine Mutter zugenommen. Ihr Gewicht wird immer mehr zum Problem. Die Tagespflegestätte sollte eine Entlastung sein – was wird nun daraus?
Jetzt wäre eigentlich ein guter Zeitpunkt, um über einen Altersheimaufenthalt zu sprechen, aber allein die Erwähnung des Wortes HEIM löst in meiner Familie und besonders bei meinen Eltern bloßes Entsetzen aus. Ich habe furchtbare Angst, das Thema überhaupt anzusprechen, weswegen ich es zunächst einmal verdränge.
Ein Antrag auf Pflegestufe 3 mit zusätzlichem Härtegrad läuft – die letztmögliche Steigerung. Deshalb kommt erneut ein ärztlicher Gutachter und prüft, ob wir berechtigt sind. Der zusätzliche Härtegrad könnte uns vielleicht ein paar Euro mehr für eine Betreuung bescheren. Tatsächlich kann meine Mutter nicht einmal mehr einen Löffel selbstständig heben, um zu essen. Sie kann absolut gar nichts allein erledigen.
Mein Vater ist auf Pflegestufe 2 festgelegt. Er sieht sehr schlecht und braucht ebenfalls Hilfe bei den täglichen Verrichtungen. Doch in Wahrheit stehen nicht seine körperlichen Gebrechen im Vordergrund, sondern die Demenzerkrankung meiner Mutter und seine Depression.
Einen adäquaten Ersatz für Tessa zu finden muss jetzt allerdings an erster Stelle stehen, doch das wird nicht einfach werden. Immerhin ist sie seit einem Jahr bei uns und gut eingearbeitet.
Schon wieder ein neuer Auftrag für mich. Langsam wird das zu einem Vollzeitjob ohne Gehalt und ohne Anerkennung, denke ich. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann mein Vater das letzte Mal etwas Nettes zu mir gesagt hat. Was ihm nicht passt, teilt er mir jedoch fast täglich mit.
Am darauffolgenden Tag telefoniere ich mit der Agentur und teile mein Problem mit. Wir brauchen eine neue Pflegerin, so schnell wie möglich. Bis dahin bitte ich Samanta, die im Wechsel Dienst mit Tessa hat, ab der kommenden Woche deren Dienste zu übernehmen. Sie verspricht mir, nun täglich die Zehn-Stunden-Schicht zu übernehmen.
Ich weiß, lange kann Samanta das nicht durchhalten. Dennoch versichert sie mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Sorgen mache ich mir trotzdem, denn ich fürchte um einen Zusammenbruch meines Pflegekartenhauses. Dieser
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