Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
Zuspätkommen nicht zu verantworten hat. Es ist für mich nachvollziehbar, dass es mal länger dauern kann bei einem Patienten. Sie kann nicht genau sagen, wann sie kommt. Und ist mal eine Kollegin krank, dann muss sie unter Umständen noch ein paar Patienten einschieben.
Ich versuche Tessa die Problematik zu schildern.
»Aber wir können deine Mutter doch nicht einfach vom Tisch wegziehen, wenn die Pflegerin gerade kommt«, erregt sie sich. »Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass dies passiert. Letztens musste dein Vater schon allein frühstücken. Nur so spät war es noch nie.«
Ich stehe vor einem nahezu unlösbaren Problem. Tessa ist körperlich nicht in der Lage, meine Mutter allein zu waschen und anzukleiden. Wir sind auf die Hilfe des Pflegedienstes angewiesen.
»Wir müssen das so akzeptieren, Tessa«, sage ich zu ihr. »Sie wird sich bemühen, früher zu kommen«, füge ich noch hinzu.
Die Unruhe meiner Mutter, der Terror meines Vaters und die Streitigkeiten der Pflegerinnen untereinander bringen ein solches Chaos, dass man manchmal das Gefühl hat, in einem Irrenhaus zu leben. Ich muss mir etwas überlegen, damit wieder etwas Ruhe in unser aller Alltag kommt.
Was könnte das nur sein?
Die Tagespflegestätte – ein neuer Versuch
In den nächsten Tagen lese ich zufällig von einer Tagespflegestätte in der Nähe. In dem Artikel wird damit geworben, dass Menschen mit Demenz dort den Tag sinnvoll mit Spielen, Singen und Basteln unter fachlicher Betreuung verbringen können. Für die Angehörigen soll das Entlastung bringen und für die Betroffenen etwas Abwechslung.
Sofort bin ich von der Sache begeistert. Gleich in den nächsten Tagen fahre ich persönlich vorbei. Die Räume der Tagesstätte machen einen sehr freundlichen Eindruck. Ebenso die Leitung der Einrichtung. Erfreulicherweise gibt es noch einen Platz, meine Mutter würde sogar abgeholt. Das alles klingt vielversprechend! Bevor ich jedoch zusage, will ich mit meinem Vater sprechen.
Noch am gleichen Abend setze ich mich zu ihm auf die Couch und erzähle von meiner Idee. Er ist überhaupt nicht begeistert und hat jede Menge Bedenken.
»Wie soll Mutter da hinkommen?«, fragt er skeptisch.
Aber diese Frage kann ich gleich vom Tisch fegen. »Sie würde persönlich abgeholt werden. Sie kann sogar im Rollstuhl sitzen bleiben«, erkläre ich.
»Wie soll sie denn ohne mich zurechtkommen?«, will er wissen.
Besser als mit dir, denke ich, sage es aber nicht. »Mach dir keine Sorgen. Da gibt es viele nette Menschen, die sich um Mutter kümmern«, antworte ich.
»Aber es wird ihr nicht gefallen. Sie will doch nicht von zu Hause weg«, meint er.
Er macht sich Sorgen. Einerseits ist er nervlich am Ende, andererseits kann er nicht loslassen. Ein wahres Dilemma, in dem er sich da befindet.
Vorsichtig versuche ich ihn zu überzeugen. »Vati, du brauchst eine Pause! Mutter hat nichts davon, wenn du plötzlich ausfällst, weil du nicht mehr kannst.«
Damit gewinne ich ihn für das Projekt. Er willigt ein, einen Versuch zu starten.
Noch in der gleichen Woche organisiere ich die Fahrt in die Tagesstätte. Ich nehme mir extra frei, um dabei zu sein, wenn meine Mutter abgeholt wird.
Es ist eine mittlere Katastrophe. Wie mein Vater schon vermutet hat, will meine Mutter überhaupt nicht weg. Sie ruft immer wieder um Hilfe. Ihr Mann ist völlig aus dem Häuschen. Er läuft hin und her, murmelt vor sich hin: »Das wird nichts mehr, ich hab’s doch gleich gewusst.« Die Situation scheint aus dem Ruder zu laufen. Der junge Fahrer des Fahrdienstes ist total überfordert. Wahrscheinlich wünscht er sich gerade an das andere Ende der Welt. Ich würde da gern mitkommen.
Um das Ruder noch einmal herumzureißen, steige ich in das Auto zu meiner Mutter, beuge mich zu ihr und zische ihr ins Ohr: »Wenn du jetzt nicht aufhörst, dann kippt Vati gleich um, und du bist schuld.«
Ich verstehe nicht, wieso ich so gemein bin, aber sie muss jetzt unbedingt aufhören, sich so aufzuführen. Mit dem Theater, das sie macht, kippt mein ganzes schönes Projekt, meine Hoffnung auf eine Verbesserung der häuslichen Situation wird zunichte gemacht. Die Tagesstätte ist doch eine Chance für uns alle!
Offenbar sind meine Worte angekommen, denn meine Mutter ist sofort still, sie sieht mich allerdings mit ihren großen Augen, die sich langsam mit Tränen füllen, entsetzt an. Eine schier unbezwingbare Verzweiflung macht sich auf ihrem Gesicht breit.
Verdammt, das ist ja noch
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