Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
beherrsche mich und antworte, wenn auch nicht ganz so freundlich wie sonst.
»Ja, was gibt’s denn?«
Stur bleibe ich auf dem Stuhl sitzen und gehe nicht vor zur Balkonbrüstung. So kann sie mich wenigstens nicht sehen, was sie ganz offensichtlich stört.
»Martina?«, höre ich ihre fragende Stimme.
Lena sieht mich fragend an. Sie wundert sich, warum ich so stoisch auf meinem Stuhl sitzen bleibe. Entnervt gebe ich auf und gehe ein paar Schritte nach vorn an das Balkongeländer.
»Ach, da bist du ja!«, beginnt Tessa zu plaudern. »Mutti geht es auch nach dem Mittagsschläfchen richtig gut. Das ist doch schön, oder?« Sie sieht mich fragend an.
»Hm«, antworte ich und bemühe mich um ein Lächeln.
Dann erzählt sie mir, was sie heute gekocht hat, was meine Mutter für Wörter gesagt hat und zu guter Letzt, dass sie noch ein zweites Mal Stuhlgang hatte.
Lena kichert leise hinter mir. Selbst sie bemerkt mittlerweile, wie absonderlich diese nicht erfragten Berichte sind.
»Aha!«, sage ich nur, »dann ist ja alles bestens!« und gehe in die Wohnung.
Da muss sich etwas ändern. Tessa versteht einfach nicht, dass ich an den pflegerischen Details nicht interessiert bin. Sie geht davon aus, dass es nichts Wichtigeres gibt als die Erfüllung ihrer Aufgaben und dass alle daran teilhaben wollen, besonders ich. Doch ich brauche Luft zum Atmen. Es muss möglich sein, auf dem Balkon zu sitzen, ohne ständig angesprochen zu werden. Jeder zerrt an mir, jeder will etwas von mir. Muss ich in den Keller flüchten, um ein wenig Zeit für mich zu haben?
Es hilft nichts, ich muss mit Tessa Klartext reden.
Am frühen Abend telefoniere ich mit einer Freundin und erzähle ihr von meinem Kummer mit der Pflegerin. Doch sie weist mich zurecht, dass diese auch ihren Austausch braucht. Und wenn es mich nicht interessiert, wen dann?
Na gut, da hat sie recht. Wir diskutieren hin und her, bis wir eine Lösung haben. Ich werde mit Tessa vereinbaren, dass wir uns einmal in der Woche besprechen sollten, außer es passiert etwas Außergewöhnliches. Dann muss sie mich nicht mehr an der Tür mit den Neuigkeiten überfallen.
Gleich am nächsten Tag rede ich mit Tessa. Sie nickt eifrig und verspricht, sich daran zu halten. An ihrem Gesichtsausdruck erkenne ich jedoch, dass sie mich nicht wirklich versteht. Wahrscheinlich denkt sie, dass mich alles rund um meine Eltern interessieren muss. Aber das ist nicht so. Es gibt Dinge im Leben der Eltern, die wollen Kinder nicht erfahren – ganz gleich wie alt sie sind!
Verstärkung
Die Pflegesituation der Eltern wird so aufwendig, dass ich gezwungen bin, eine zweite Pflegerin zu beschäftigen, die sich die Schicht mit Tessa teilt. Ich nehme Kontakt mit einer Agentur für Pflegekräfte auf. Die meisten Pflegerinnen, die von dieser Agentur vermittelt werden, kommen aus Polen. Schon die Vermittlung zuvor hat reibungslos geklappt, weswegen wir uns erneut für diesen Weg entscheiden. Die Agentur schickt uns Samanta, die zum Glück ein wenig deutsch spricht.
Der Tag fängt um acht Uhr morgens an und endet um acht Uhr abends. Beim Ankleiden sowie beim Auskleiden hilft noch der ambulante Pflegedienst. Die Nacht verbringen meine Eltern allein in der Wohnung. Tessa, die im Haus wohnt, ist im Notfall in Rufbereitschaft.
Meine Mutter ist überhaupt nicht mehr in der Lage, körperlich mitzuarbeiten. Die starken Medikamente gegen ihre Unruhe führen zu einer totalen Erschlaffung ihres Körpers. Für eine einzelne Person ist es nahezu unmöglich, sie ins Bett oder aus dem Bett zu heben. Kürzlich war ein ärztlicher Gutachter der Krankenkasse da und hat die Pflegestufe 3 bestätigt. Es wurde festgestellt, dass bei meiner Mutter täglich durchschnittlich mindestens fünf Stunden lang Hilfe geleistet werden, davon entfallen mindestens vier Stunden auf die Grundpflege. Der konkrete Hilfebedarf ist jederzeit, auch nachts, gegeben. Also rund um die Uhr. Das bedeutet, meine Mutter ist schwerstpflegebedürftig. Meine Eltern bekommen von der Pflegeversicherung 685 Euro im Monat. Da wir auch noch den ambulanten Pflegedienst bemühen, verringert sich die Geldleistung anteilmäßig. Eine äußerst komplizierte Rechnung, die ich aber mittlerweile verstanden habe.
Schon seit einiger Zeit bitten die Pflegerinnen, einen Wannenlift einbauen zu lassen. Mit diesem Gerät würde es wieder möglich, meine Mutter in die Badewanne zu setzen, erklären sie. Obwohl wir die Dusche mit Sitz und Griffen ausgestattet haben, kann meine
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