Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
mehr entscheiden können, jemanden beauftragen müssten, der für sie entscheidet – sie müssten also eine Vollmacht erteilen. Wenn die aber nicht frühzeitig ausgeschrieben worden sei, müsse man die gesetzliche Vertretung über das Amtsgericht beantragen. Sonst könne ich meine Mutter nicht ins Heim bringen. Sie dürften ohne dieses Schriftstück eigentlich niemanden aufnehmen, erläutert die Mitarbeiterin weiter. Wegen der Dringlichkeit hätten sie eine Ausnahme gemacht. Ich müsse das Schreiben aber auf alle Fälle so bald wie möglich nachreichen.
Es bleibt mir keine Zeit für Tränen, Trauer und Frust. Die nächsten Formalitäten warten bereits darauf, von mir erledigt zu werden. So treibt es mich ständig zwischen nervigem Behördenkram und emotionalen Katastrophen hin und her. Eine gesetzliche Vertretung ist für die Behörde nur Routine, aber das menschliche Schicksal, das dahintersteht, ist eine andere Sache. Und wer soll diese Vertretung sein? Das zu entscheiden sollte, wie sich herausstellte, eine schwierige Sache werden.
Zu Hause angekommen, gehe ich gleich zu meinem Vater in die Wohnung. Er will doch bestimmt wissen, wie es Mutter geht. Ich finde ihn im Wohnzimmer mit Kaffee und Keksen. Neben ihm steht das Radio, laute Musik läuft. Als ich hereinkomme, dreht er den Ton herunter und sieht mich fragend an.
»Und?«
»Alles okay!«, lüge ich ihn an. »Mutter wird sich dort schon einleben. Die Pflegerin hat sich gleich um sie gekümmert. Wenn du willst, besuchen wir sie morgen.«
»Jaja!«, meint er resigniert.
»Ich kann aber auch einen Ausflug für dich organisieren. Dann hast du etwas Ablenkung«, schlage ich ihm vor.
»Mhm«, antwortet er. Ich schließe daraus, dass er die Idee gut findet.
Ein wenig Abwechslung wird ihm guttun. Ich hoffe auch, dass er wieder Lebensmut schöpft.
»Ich kenne jemanden, der Zeit hätte, mit dir etwas zu unternehmen«, fahre ich fort. »Hättest du Lust auf eine Dampferfahrt?«
»Von mir aus«, meint er.
Ich bin begeistert. Sollte es doch noch gelingen, ihn zurück ins Leben zu bringen? Erst kürzlich habe ich erfahren, dass es eine Stiftung gibt, die sich Angehörigen von Demenzkranken annimmt. Dort will ich anrufen. Ich hoffe, sie können meinem Vater wieder etwas Lebensmut zurückgeben.
Schon am nächsten Tag kommt eine Mitarbeiterin der Stiftung zu uns. Wir sitzen gemeinsam auf der Terrasse. Meinen Vater habe ich vorab über den Grund des Besuches informiert.
»Sie kann dir ein paar Vorschläge machen, wie du wieder mehr Spaß am Leben bekommst«, sagte ich zu ihm.
»Spaß … haha! Ja, was für ein Spaß kann das werden?«, bemerkt er zynisch. »Ich seh nix, und sprechen kann ich auch nicht.«
Trotz der regelmäßigen Übungen mit der Logopädin fällt ihm das Sprechen schwer. Wenn er sich jedoch anstrengt, versteht man ihn wunderbar.
Ich versuche mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen. »Gib der Sache bitte eine Chance!«, flehe ich ihn an.
Aber an diesem Nachmittag gibt er der Sache keine Chance. Er ist sehr unfreundlich und wirkt extrem verbittert. Alle Vorschläge, die die Stiftungsmitarbeiterin meinem Vater macht, lehnt er ab. Besuche oder Ausflüge werden kommentiert mit »Brauch ich nicht!« oder »Kenn ich schon, den Schmarrn!«. Nach einer Stunde gibt sie auf. Zwar immer noch freundlich, aber ich weiß jetzt schon, dass sie es abgehakt hat, wir werden wohl nie wieder etwas von ihr hören.
Immer mehr wird mir klar, dass meinem Vater nicht mehr zu helfen ist. Er will nicht mehr positiv denken und sieht keinen Grund mehr zu leben. Das Einzige, was ihm bleibt, ist, uns das Leben schwer zu machen. Darin gibt er sich besonders Mühe. Er schimpft über die Pfleger, über die Ärzte und über den Rest der Familie, der nicht anwesend ist. Keiner kann es ihm mehr recht machen. Meist lasse ich ihn reden und gehe nicht mehr auf seine Worte ein. Doch wenn ich nach so einem Gespräch gehe, steht er immer ganz höflich auf, drückt mir die Hand und sagt: »Dank dir schön, Martina!« Und das tut jedes Mal weh, weil es sich so echt anhört. Da merke ich immer, wie ein Teil meines Herzens trotz allem für ihn schlägt.
Am Abend nach der Abfuhr bin ich sehr wütend. Wieder sind meine Bemühungen ins Leere gelaufen. Beim Abendessen habe ich kaum Hunger. Es geht mir nicht gut. Ich habe Kopfschmerzen und muss ständig niesen.
»Hast du dich erkältet?«, fragt Jens erstaunt.
»Nicht, dass ich wüsste« antworte ich.
Das ist sicher keine Erkältung,
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