Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
erschrocken, im Laufe der letzten Jahre sind sie aber immer mehr im Sumpf des Alltags versickert. Vielleicht habe ich sie auch nur weggesperrt, und sie schlummern noch im Untergrund. Ich weiß es nicht.
Wie schön wäre es gewesen, hätten meine Eltern und ich unser einst so gutes Verhältnis bis zum Schluss führen können. Ich kann mich kaum noch an die Zeit vor ihrer Pflegebedürftigkeit erinnern. Kürzlich sagte jemand zu mir, die Erinnerung an früher und die Gefühle dazu würden wiederkommen. Später – wenn die Eltern gestorben sind. Ich vertraue darauf, es ist ein Hoffnungsschimmer für mich. Denn so will ich mich nicht an meine Eltern ein ganzes Leben lang erinnern. Damit unsere Tochter nie in diese Situation kommt, sage ich ihr immer wieder, dass ich, sollte ich einmal pflegebedürftig werden, in ein Altersheim gehen möchte.
»Ich will nur, dass du mich zum Kaffee besuchst und den Pflegern auf die Finger schaust. Aber komm bloß nicht auf die Idee, wir könnten gemeinsam in einem Haus wohnen«, sage ich.
»Warum denn nicht, Mami?«, fragt sie immer wieder.
»Weil ich will, dass du mich als nette alte Frau erlebst, die sich freut, wenn ihre Tochter mal Zeit für sie hat. Du sollst dich nicht darum kümmern müssen, wann ich aufs Klo muss und welches Abführmittel ich nehmen soll«, erkläre ich.
Immer wieder rede ich mit ihr darüber. Es ist mir so wichtig. Sie soll nicht das Gleiche erleben wie ich. Sie soll frei sein.
»Aber ich kann dich doch nicht allein lassen«, protestiert sie.
»Das sollst du auch nicht. Du schaust einfach, dass es mir gut geht. Okay?«, antworte ich.
Später wird sie einmal verstehen, was ich gemeint habe. Ich will nicht denselben Fehler machen wie meine Mutter und ihr schon frühzeitig das Gefühl geben, dass sie für mich verantwortlich ist. Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich. Und wenn mein Vater mich mit seiner Art aus dem Haus ekelt, dann ist er auch selbst dafür verantwortlich, wenn ich irgendwann nicht mehr komme.
»Wenn all die Jahre einen Sinn haben sollen, dann den, dass ich es besser machen werde!«, sage ich.
Ich bin der festen Überzeugung, dass alles im Leben einen Sinn ergibt. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, ich bestehe darauf, dass alles einen Sinn macht. So lässt es sich leichter aushalten.
Ich gebe ab
In der dritten Woche packt mich dann doch wieder das schlechte Gewissen, und ich spaziere mit unserem Hund in Richtung Elternhaus. Mein Vater liebt Hunde und freut sich immer, wenn Jacko mit dabei ist.
Die letzten Wochen habe ich genutzt, viel Zeit mit meinem Pferd zu verbringen. Es wurde in den vergangenen Jahren leider etwas vernachlässigt. Meist bin ich nur kurz ausgeritten, für die Pflege blieb kein Raum. Viele Male mussten Freundinnen für mich einspringen, mein Mann oder meine Reitbeteiligung. Jetzt genieße ich die Stunden mit Birtinguˉr. Es ist wie eine Art Urlaub, der meiner Seele guttut. Es gibt kaum einen besseren Platz, um sich zu entspannen als einen warmen Pferderücken. Mein Pferd ist das Beste, was mir in der letzten Zeit passiert ist. Ein Pferd muss bewegt und versorgt werden. Mindestens viermal in der Woche entfliehe ich dem Alltag. Dann bin ich auch nicht per Handy erreichbar.
Eigentlich sollte ich entspannter sein nach der Auszeit, die ich mir genommen habe, doch ich denke mir, dass es sich anfühlt, als ob ich auf dem Weg zum Schlachter wäre. So muss das sein, denke ich. Mit jedem Schritt wird meine Stimmung schlechter. Wird mein Vater schlechte Laune haben? Wird er wieder vom Sterben reden? Und dass wir ihn alle im Stich gelassen haben? Wie geht es meiner Mutter? Schläft sie, oder wird sie nur stumpfsinnig dasitzen? Ich bemerke, wie ich immer langsamer werde, bis ich kurz vorm Ziel stehen bleibe. Die drei Wochen Auszeit haben offenbar doch nichts bewirkt. Es ist wieder da, das schlechte Gefühl.
Jacko sieht mich mit seinen großen Hundeaugen an. So als wollte er mich fragen, was das soll. Ich schaue auf die Uhr. Es ist vier. Bestimmt sitzen die Eltern mit ihrem Kaffee im Wohnzimmer. Jetzt, da ich fast schon da bin, muss ich auch hineingehen. Ich gebe mir einen Ruck und ignoriere den Wunsch, auf der Stelle umzukehren.
Als ich an der Tür klingle, macht mir die Pflegerin auf. »Ah! Martina!«, ruft sie mir entgegen. »Bist du auch mal wieder da?« Sie umarmt mich herzlich. »Dein Vater schläft noch«, sagt sie und zeigt auf die Schlafzimmertür.
Ich folge ihr ins Wohnzimmer, in dem meine Mutter in
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