Mutterliebst (German Edition)

abwarten müssen.
    Sie ist erschöpft und merkt, dass ihre Gedanken nicht mehr strukturiert sind. Die mentale Disziplin, mit der sie diesen Albtraum bislang durchgestanden hat, löst sich allmählich auf. Mariannes Tagebücher sind so schrecklich, dass sie sich bereits zweimal übergeben musste. Dennoch zwingt sie sich, ein weiteres aus ihrer Tasche zu ziehen. Es hat einen pinkfarbenen Einband mit kitschigen Rosen. Die erste Seite ziert ein Eintrag in sorgfältiger, weiblicher Handschrift.
Liebe Doktor Joyce,
Kevin war mein ganz besonderer Junge. Es hat so viel Spaß gemacht im Krankenhaus – ein ständiger Strom an Besuchern. Ich habe ein absolut umwerfendes Nachthemd mit passendem Morgenmantel getragen – in blassem, mädchenhaftem Rosa mit leuchtend roten Nähten. Dann sind wir nach Hause gefahren, und wie üblich gingen die Probleme los.
    Danielle überspringt die abstoßende Beschreibung der unzähligen Tests und Quälereien, mit denen Marianne das kleine Kind traktiert hat.
Eines Tages hatte ich eine brillante Idee. Als Krankenschwester hatte ich von Succinylcholine gehört. Es wird bei Operationen benutzt, um die Muskulatur zu entspannen. Da mein Junge so furchtbare Schmerzen hatte, was würde wohl passieren, wenn ich ihm nur eine klitzekleine Dosis gäbe? Schließlich bin ich auch nur ein Mensch – dieses ständige Weinen ging mir auf die Nerven. Also habe ich ihm eine kleine Injektion in die Kniekehle gegeben (erinnern Sie sich an das, was ich zu Nadeleinstichen gesagt habe?), und es hat wahre Wunder gewirkt, bis er einen Krampfanfall erlitt. Ich musste ihn schütteln, damit er ein bisschen Sauerstoff bekam. In diesen kritischen Minuten schwebte er zwischen Leben und Tod. Nie habe ich mich so lebendig gefühlt – entsetzt und erregt, wie bei einer Achterbahnfahrt.
    Danielle schließt das Tagebuch, während eine neue Welle der Übelkeit sie überrollt. Wie sollte man sich vorstellen können, dass ein solches Monster existiert, wenn man diese Eintragungen nicht mit eigenen Augen gesehen hatte? Ihre Uhr sagt ihr, dass es im Gerichtssaal von Plano jetzt zehn Uhr ist. Tony muss mittlerweile vollkommen außer sich sein. Gott, sie muss ihm sagen, was sie rausgefunden hat, damit er weiß, wie er Marianne zu befragen hat, sollte sie es nicht rechtzeitig zurückschaffen. Hastig kramt sie in ihrer Tasche nach dem Handy, doch dann fällt ihr ein, dass Sevillas im Moment nicht erreichbar ist. Doaks. Sie wählt seine Nummer.
    „Wo sind Sie?“
    „Am Flughafen.“
    „Ich komme Sie abholen“, entgegnet er. „Sie stecken vielleicht in der Scheiße.“
    „John, ich bin in Phoenix. Der Flug hat Verspätung.“
    „Oh Gott“, stöhnt er. „Wie viel Verspätung?“
    „Bis sie die Maschine repariert haben. Hören Sie, Doaks, Sie müssen …“
    „Passen Sie auf, Sevillas ist so angepisst, so sauer auf Sie, dass er da drinnen gerade Gift und Galle spuckt. Diese alte Schachtel Kreng ist im Moment im Zeugenstand und stellt Max als gewalttätigen Psychofreak dar und Sie als durchgeknallte Verrückte. Und Max dreht völlig durch. Ich weiß nicht, wie lange Georgia ihn noch unter Kontrolle halten kann. Sehen Sie zu, dass Sie Ihren Hintern in ein anderes Flugzeug bewegen und herkommen, Danny, oder diese ganze Geschichte geht völlig den Bach runter.“
    „Doaks, bitte hören Sie mir einfach zu.“ Sie bemüht sich, möglichst bestimmt und zuversichtlich zu klingen. „Ich werde so bald als möglich da sein, doch bis dahin wird Sevillas das Kind schon schaukeln. Ich bin auf eine Goldader gestoßen, und ich bringe sie mit.“
    „Nicht schon wieder.“ Er murmelt etwas, das sie nicht versteht. „Schauen Sie, ich weiß, dass die Mutter verrückt ist, aber Sie haben nicht …“
    „Verrückt ist nicht das, was ich habe“, unterbricht sie ihn. „Ich habe Mord.“
    Sie hört, wie er scharf einatmet. „Am besten erzählen Sie mir ganz schnell, was Sie haben.“
    „Ich habe kalte, harte Beweise, die zweifellos zeigen, dass Marianne andere Kinder hatte, dass sie sie auf abartige, unglaubliche Weise umgebracht hat …“
    „Jesus, Maria und Joseph. Wie viele Kinder hatte sie?“
    „Ich weiß es nicht. Mindestens zwei vor Jonas.“
    „Haben Sie irgendetwas, das sie direkt mit Jonas verbindet?“
    „Noch nicht, aber ich gehe die anderen Tagebucheintragungen durch, bevor ich lande.“
    „Sehen Sie einfach zu, dass Sie so schnell wie möglich hierherkommen“, versetzt er. „Sevillas hat nicht mehr so viele Trümpfe im