Mutterliebst (German Edition)
Er erkennt eine verschwommene Silhouette hinter dem dreckigen Fenster. Eine blasse Hand klopft gegen das Glas. Doaks geht zurück zur Tür und erspäht eine kleine weibliche Gestalt, deren Mund sich bewegt. Die Tür öffnet sich einen Spalt. Die Stimme klingt harsch und rauchig. „Was zum Teufel wollen Sie?“
„Guten Tag, Ma’am.“ Doaks nimmt seinen alten Hut ab und hält ihn vor die Brust. „Ich bin …“
„Versuchen Sie etwa, mir was zu verkaufen?“, faucht sie und öffnet die Tür noch ein Stückchen mehr. „Nun, dann können Sie auf der Stelle kehrtmachen und verschwinden.“
Er erhascht einen Blick auf eine kleine, grauhaarige Frau mit stahlharten Augen. Als sich die Tür schließt, schiebt Doaks blitzschnell den Fuß dazwischen, sodass die Tür zurückprallt, anstatt zuzufallen. Ehe die Frau reagieren kann, redet er auch schon. „Es tut mir wirklich leid, Sie zu stören, aber ich bin auf der Suche nach einer Frau, die hier lebt – oder zumindest hier gelebt hat.“ Er hält das Blatt Papier mit Mariannes Adresse darauf hoch. „Ich würde es wirklich zu schätzen wissen, wenn Sie sich vielleicht eine Minute Zeit nehmen könnten, um mir zu helfen.“
Die alte Frau beginnt schon wieder, die Tür zu schließen. „Ich rede mit niemandem in diesem Viertel, Mister. Nehmen Sie Ihren Kopf aus dem Weg.“
„Bitte, Ma’am, es ist meine Ehefrau“, sagt er. „Sie ist abgehauen, und Sie sind die Einzige, die mir helfen kann.“
Die Tür bleibt ein paar Zentimeter geöffnet. Die alte Frau mustert ihn eingehend.
Doaks setzt eine Miene auf, als könnte er kein Wässerchen trüben. „Hey, ich bleibe auch hier im Regen stehen. Ich bin einfach nur ein Kerl, der nach seinen Kids sucht, das ist alles.“
Bingo.
Plötzlich öffnet sich die Tür weit, und sie taucht in ihrer ganzen Gestalt auf. Er schätzt sie auf fünfundsiebzig, vielleicht auch achtzig. Sie trägt einen Chenille-Morgenmantel, der so abgenutzt ist, dass selbst die Taschen fadenscheinig wirken. Dort wo der Morgenmantel aufklafft, wird ein abgetragenes Nachthemd sichtbar. Ihre Brüste hängen tief herab, fast ganz flach bis zum Bauchnabel – beinahe wie tote Vögel, die an den Krallen aufgeknüpft wurden. „Haben Sie einen Namen?“
„Ja, Ma’am“, erwidert er. „Edwin Johnson. Rohrleger aus Norman, Oklahoma.“
„Nach wem suchen Sie?“
„Nach einer Lady – meiner Exfrau.“
„Hat die auch einen Namen?“
„Marianne Morrison. Ungefähr so groß …“ Er hält die Hand an seine Brust. „Blonde Haare, blaue Augen. So um die vierzig.“
„So jemand gibt’s hier nicht.“ Ihre Augen wirken hart.
Er merkt deutlich, dass sie kurz davor steht, sich zurückzuziehen. Rasch tritt er näher an sie ran. „Ja, Ma’am, ich weiß, aber sie hat hier vor einer Weile gelebt. Sie hat diese Adresse auf der Krankenhausanmeldung für meinen Sohn angegeben.“
„Hier gab’s keine Blondinen. Eine Brünette, vielleicht“, versetzt sie. „Wie alt ist Ihr Sohn?“
„Siebzehn.“
Ihre Augen blitzen. Die Tür öffnet sich noch ein Stückchen weiter. Er will bereits hineingehen, doch sie tritt auf die Veranda hinaus und drängt ihn erneut mitten in den Regen. Doaks lächelt, doch sein erbärmlicher Versuch, akzeptiert und angenommen zu werden, wird ignoriert.
„Ich habe eine Frage an Sie“, sagt sie.
„Ja, Ma’am?“
Der Blick ihrer kalten Augen legt sich messerscharf auf ihn. „Ist an Ihrem Jungen irgendwas Besonderes?“
„Ganz sicher“, entgegnet er. „Sein Name ist Jonas, und er hat ein paar – Probleme. Er ist autistisch und benimmt sich ein wenig merkwürdig …“
„Sind Sie bereit, ihre Schulden zu zahlen?“ Ihre Augen wirken klar und berechnend. „Da Sie ja ihr Ehemann sind?“
„Und ob ich das bin, Ma’am.“ Er schlägt die Hände zusammen wie ein Baptistenprediger. „Ich hab zwar keinen Pfennig mehr, aber die Schulden meiner Familie hab ich noch immer gezahlt.“
Sie starrt ihn ausdruckslos an, dann winkt sie ihn ungeduldig herein. „Das Miststück ist abgehauen, ohne die letzten zwei Monatsmieten zu zahlen. Ist nicht schwer für ’ne Brünette zur Blondine zu werden oder umgekehrt, schätze ich.“
Doaks kann nicht fassen, dass Danielle möglicherweise auf etwas gestoßen ist, selbst wenn es vermutlich nicht viel ist. Er will bereits folgen, als er etwas aus dem Augenwinkel wahrnimmt. Der Taxifahrer ist vor dem Nachbarhaus vorgefahren. Rasch schaut er zu der alten Lady rüber, um sicherzugehen, dass
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