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Mutterschuldgefuehl

Titel: Mutterschuldgefuehl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Hartmann
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Babypause. Kleine Frage: Ist das Kinderuntersuchungsheft vielleicht extra für die behandelnden Ärzte geschrieben? Warum sind dann Somatogramme angefügt? Haben die Damen und Herren ihre Hausaufgaben nicht gemacht
? Interessanterweise fehlt in neueren Ausgaben des Kinderuntersuchungsheftes der blumige Kennziffernkatalog, aber ich durfte noch wie viele andere Eltern als junge Mutter in den vollen Genuss kommen.
    Dummerweise bin ich seit der Schwangerschaft sehr argwöhnisch, wenn Ärzte mein Kind bewerten wollen. Solche Heftchen mit seitenlangen Listen von Krankheiten, Auffälligkeiten und Normkurven wie das gelbe hier machen mich irgendwie nervös. Man stelle sich vor, man würde seinen Mann mit derartigem Begleitmaterial nach Hause geliefert bekommen. Ich würde ihn jahrelang argwöhnisch beobachten und klammheimlich vermuten, dass jeden Augenblick die Bombe platzt und er gefährliche Krankheiten entwickelt. Und genau das mache ich jetzt bei meinem Kind.
    Es ist ja nicht so, dass so ein Dokument mir die ganze Mutterschaft versauen könnte. Das wäre ja albern. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aber ein Steinchen kommt zum anderen und es scheint sich so langsam ein Mosaik zu bilden. Das Mosaik eines Kindes, das stets von Experten untersucht werden muss, um drohendes Unheil, Unglück, Krankheit und lebenslanges Leid abzuwehren. Ist es denn vermessen, sich als Mutter ein wenig mehr Gelassenheit und Sorglosigkeit zu wünschen?
    Einer spontanen, privaten, nicht wissenschaftlichen, aber meiner Meinung nach sehr repräsentativen Umfrage zufolge leben die Mütter und Väter am besten, die das Kinderuntersuchungsheft gar nicht erst lesen, sondern es stoisch von einer »U« zur nächsten schleppen und es ansonsten unbeachtet in die Schublade feuern. Aber ich weiß, was von mir erwartet wird, und nehme pflichtbewusst von Anfang an die regelmäßigen Gesundheitschecks bei der Kinderärztin wahr - die ersten Stationen auf dem langen Weg der Förderung. Es ist anfangs nicht so leicht zu begreifen, dass hier keine diskriminierende Fleischbeschau meiner Tochter mit anschließender Mängelliste stattfindet, sondern die ersten Schritte zur Erschließung des gesamten kindlichen Potenzials. Die Ärztin dreht und wendet mein Baby geschickt wie ein nacktes Hühnchen zwischen ihren Händen. Und während mir der
Schweiß ausbricht, stellt sie fachkundig fest, wo wir handeln müssen.

Alles ist machbar
    Seit in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts Medizin, Psychologie und Pädagogik große Fortschritte verzeichnet haben, glauben wir fest daran, das Leben unserer Kinder maßgeblich gestalten zu können. Schicksal ist machbar, vom ersten Zeichen der Schwangerschaft an. Gottvertrauen wird durch Wissenschaftsglauben abgelöst. Nahezu alles scheint möglich. Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim beschrieb Ende des letzten Jahrhunderts in ihrem Buch Die Kinderfrage ausführlich, dass ein Kind aus diesen Gründen »immer weniger hingenommen werden (darf), so wie es ist, mit seinen körperlichen und geistigen Eigenheiten, vielleicht auch Mängeln«.
    Und zu den Mängeln von damals sind inzwischen noch mehr hinzugekommen, die früher noch als kleine Macken hingenommen wurden. Körperliche Behinderungen sind vermeidbar oder zunehmend behandelbar, Wahrnehmungsstörungen und Schönheitsfehler sind ausgleichbar. Schielen, Stottern, Bettnässen, Nuscheln, Schlafstörungen, Zahnfehlstellungen, abstehende Ohren, Konzentrations- und Leistungsschwäche, Spätentwicklung, Schüchternheit und Wutanfälle sind heute keine Sachverhalte mehr, unter denen Kinder leiden müssen und mit denen man sich abfinden will. Zwar sind die Mängel manches Mal so gering, dass sie nur ein Arzt entdeckt. Therapien gibt es dann trotzdem. Nicht-Förderung und Nicht-Verbesserung sind keine Kavaliersdelikte mehr, sondern gelten als unterlassene Hilfeleistung und werden im sozialen Umfeld engagierter Eltern äußerst kritisch gesehen. Schließlich wird hier einem Kind das Leben unnötig erschwert, in einer Gesellschaft, in der alle anderen auf der Überholspur zu sein scheinen. Schön ist der Mensch, hilfreich und gut - wenn er tadellos, gesund und leistungsfähig ist.

    Es kostet uns Mütter fast genauso viel Zeit, mit unseren Kindern zu Ärzten, Ergotherapeuten, Logopäden, Krankengymnasten, Osteopathen oder

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