Mutterschuldgefuehl
mit Fanatikern zu diskutieren. Möglicherweise werden sofort grausige Statistiken aus der Tasche gezogen, die eindeutig beweisen sollen, wie kriminell die Franzosen, wie arbeitslos die Engländer und wie unglücklich die Finnen sind. Eine Argumentationslogik, die jede Diskussion an die Wand fährt.
Aber wie sieht es denn nun heute aus, das deutsche Ideal der guten perfekten Mutter? Werte ich Ratgeber und Empfehlungen von Institutionen, Familie, Freunden und Fremden aus, verfolge ich aufmerksam Beiträge über Mütter in Funk, Fernsehen und den Printmedien, sehe ich Werbung und lese ich Anzeigen, komme ich zu folgender grober Zusammenfassung:
Eine gute Mutter in Deutschland liebt ihr Kind bedingungslos, achtet aufmerksam auf all seine Bedürfnisse und verbringt viel Zeit mit ihm. Sie lässt es nie unbeobachtet.
Sie bleibt nach der Geburt für etwa drei Jahre zu Hause.
Sie freut sich stets, wenn sie sich um ihren Nachwuchs kümmern darf, ist verständnisvoll, sanft und geduldig.
Sie lobt ihr Kind, damit es Selbstvertrauen entwickelt und später glücklich wird.
Sie glaubt an ihr Kind. Sie klammert nicht. Sie kennt immer das richtige MaÃ.
Sie ist konsequent. Sie kann ihrem Kind eindeutige Grenzen setzen, ohne seine Kreativität zu ersticken.
Sie bietet einen verlässlichen Tagesrhythmus mit Ritualen, der optimal an die Bedürfnisse des Kindes angepasst ist.
Eine gute Mutter kann sich jederzeit beherrschen. Selbstverständlich darf sie auch mal wütend werden, aber sie lässt ihre Wut nicht an den Kindern aus, sondern boxt, wenn es denn sein muss, zur Aggressionsabfuhr stumm ein Kissen hinter der Badezimmertür.
Sie ist sich darüber im Klaren, dass das Verhalten des Kindes nur das Verhalten der Eltern widerspiegelt.
Sie weià intuitiv, was am besten für ihr Kind ist und wie sie es behandeln muss, damit es ein »liebes« Kind ist.
Sie kennt alle kindlichen Entwicklungsstufen.
Sie lässt ihr Kind an frischer Luft gedeihen.
Sie legt höchsten Wert auf Sicherheit und schaltet präventiv sämtliche Gefahrenquellen aus.
Sie besucht möglichst zeitig sorgfältig ausgewählte Mutter-Kind-Gruppen, um sich weiterzubilden und ihr Kind umfassend zu fördern und ihm den sozialen Umgang mit anderen Kindern zu ermöglichen.
Sie kauft pädagogisch wertvolles, schadstofffreies Spielzeug und hölzerne Kindermöbel.
Sie beherrscht Homöopathie und Naturheilmethoden für Kinder, schätzt aber durchaus die Fortschritte der modernen Medizin und lässt das Kind in den geforderten Abständen medizinisch untersuchen.
Sie hört auf Experten.
Sie stillt mindestens ein halbes Jahr voll, kocht vollwertig, ausgewogen und gesund und vermeidet allergieauslösende Substanzen.
Sie raucht nicht.
Im Sommer fährt sie mit dem Kleinkind in das gemäÃigte Klima der Nord- oder Ostsee.
Den Vater bezieht sie in ihre Bemühungen so weit ein, dass er sich nicht überflüssig vorkommt und seine wichtige Rolle als Vater zum Tragen kommt.
Sie engagiert sich im Kindergarten und in der Schule.
Sie ist selbstlos und bringt gerne Opfer.
Das Glück ihres Kindes ist ihr wichtiger als ihr eigenes, denn sie will immer nur das Beste für ihr Kind.
Wenn ihr Kind glücklich ist, ist sie es auch.
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Nun bin ich natürlich etwas geschmeichelt, dass mir ein solch edles Verhalten zugetraut wird, ich muss mich nur ein wenig anstrengen. Zwar ist es merkwürdig, dass mir gleichzeitig eingebläut wird, ich bedürfe lückenloser Kontrolle und stetiger Anleitung, aber ich will nicht kleinlich sein und nach Logik suchen. Frauen - so lerne ich - haben das Potenzial, geradezu himmlische Charaktere zu werden, vor Weisheit, Wissen, Kraft, Opferbereitschaft und Güte nur so strotzend. Sie müssen nur ein Kind kriegen und von einer Minute auf die andere sind sie durch die Mutterliebe geläutert.
Erst viel später fällt mir auf, dass ich keine Mutter kenne, die den oben genannten Merkmalen entspricht, auch wenn einige vielleicht so tun. Aber vielleicht halte ich mich in den falschen Kreisen auf? Ich will gar nicht bestreiten, dass es dieses göttliche Wesen irgendwo gibt. Rudimente von Güte, Kraft und Weisheit kann ich durchaus auch in mir entdecken, nur nicht rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag. Fachwissen in Pädagogik, Psychologie, Ernährungswissenschaften, Schadstoffkunde und Medizin versuche ich mir anzueignen - es
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