Mutterschuldgefuehl
daher ein Kann-Kind - entweder wird sie mit fünf Jahren eingeschult oder mit fast sieben. Ist das zu früh oder zu spät? Eine zu frühe Einschulung kann ein Kind überfordern, so heiÃt es, und in der gesamten Schullaufbahn zu schlechten Noten führen. Bei einer zu späten Einschulung, munkelt man, langweilt sie sich im Kindergarten, was zur Verkümmerung ihrer Kompetenzen und - wer hätte es anders gedacht? - in der
gesamten Schullaufbahn zu schlechten Noten führt. Mein Gott, bin ich froh, dass unsere zweite Tochter ein Muss-Kind ist! Die muss dann ihre schlechten Noten erst einmal selbst verantworten.
Aber ich komme ins Grübeln. Ich bin doch auch mit sieben Jahren eingeschult worden. Die Schule fiel mir leicht, ich hatte Spaà und Freunde und die Hausaufgaben passierten in der Grundschule im Handumdrehen. Was will das jetzt sagen? War ich noch gerade ausreichend begriffsstutzig, um mich nicht zu langweilen und zu verkümmern? Oder ist Schule heute völlig anders als früher und ich kann froh sein über die Gnade der frühen Geburt? Oder stimmt etwas nicht mit der Theorie einer schädlichen späten Einschulung?
Wie dem auch sei, nach gründlichem Nachdenken sind mein Mann und ich bereit, die Verkümmerung einiger Kompetenzen und etwaige Langeweile unserer Tochter in Kauf zu nehmen. Wir möchten unsere Tochter ein bisschen länger dem Kontroll- und Leistungswahn entziehen, der uns in der Dokumentation der Kita irgendwie verdächtig aufstieÃ. Das Kind soll mit sieben Jahren in die Schule gehen und bis dahin einen (Kinder) Garten genieÃen dürfen, den es sonst nicht hätte. Der Ernst des Lebens beginnt auf den Schulhöfen. Unsere Kita ist bunt, grün und anregend gestaltet, aber die meisten Schulen in unserer Stadt strotzen vor gräulicher Tristesse, in der die einzigen optischen Highlights farbig dick bepinselte Betonwände sind.
Aber unser Kind macht uns einen Strich durch die Rechnung. Sie will unbedingt in die Lehranstalt, und so rede ich, verantwortungsbewusste mütterliche Hobby-Pädagogin, die ich nun einmal bin, mit anderen Müttern, wie sie das halten, lausche fachkundigen Erzieherinnen (»Lieber jedes Kind spät einschulen! Ich habe meinen Sohn zu früh eingeschult. Das war überhaupt nicht gut!«), besuche stundenlange Informationsveranstaltungen der Stadt zu diesem Thema und lese und recherchiere im Internet. Zu allem Unglück ist unser Kind ein Mädchen. Jungen würden die meisten Berater später einschulen. Mädchen aber seien früher entwickelt. Da ist es schwieriger.
Es ist zum Haareraufen! Am Ende folgen wir widerwillig der Empfehlung der Kinderärztin, die nach einer schulärztlichen Untersuchung soziale Kompetenzen abgeholt sehen will. Aber viel entscheidender: Wir beugen uns dem Herdentrieb, denn alle aus der Kita-Gruppe, ob fünf oder sechs Jahre alt, werden bald zur Schule gehen. Es geistert gerade eine Studie durch die Presse, die die frühe Einschulung wärmstens empfiehlt und offenbar alle beflügelt. Bliebe unsere schulbegeisterte Tochter in der Kita, wäre sie das einzige Relikt ihres Jahrganges und würde uns wahrscheinlich auf ewig hassen, weil sie ein Jahr lang mit den Kleinen spielen musste. Ja, viel tragischer: Sie würde glauben, sie sei dümmer als die anderen und dass sie deshalb nicht in die Schule durfte. Die ganze schöne von Experten geforderte Arbeit an ihrem Selbstbewusstsein in den ersten fünf Jahren wäre für die Katz!
Zähneknirschend entscheiden wir uns also für die vorzeitige Einschulung. Damit ist das Thema aber nicht vom Tisch. Denn jetzt laufen die Erzieherinnen auf Hochtouren, die entsetzt all ihre Schäfchen aus der Kita davonlaufen sehen. Mehrere reden gleichzeitig auf mich ein, um Himmels willen meinem Kind das Schicksal der frühen Einschulung zu ersparen: »Frühe Einschulung ist immer ganz schlecht!«
Ich bin den Tränen nahe. Ich fühle mich elend. Ich stecke in der Klemme. Ich bin schuldig, was immer ich auch entscheide. Und keine sagt: »Mach mal! Es wird schon. Wer weiÃ, wozuâs gut ist!« Alle präsentieren mir das Untergangsszenario.
Es tröstet da wenig, dass ich mich jetzt im Gruppenkonsens bewege und zumindest nicht als überbehütende Mutter gebrandmarkt werde, die ihr Kind nicht loslassen will. Ich weià inzwischen: Die Reputation ist nur eine Frage der Zeit. Sobald die
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