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Mutterschuldgefuehl

Titel: Mutterschuldgefuehl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Hartmann
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Selbstbildung meines Kindes zu vertrauen und geduldig abzuwarten, bis meine Tochter einen seriösen Berufswunsch entwickelt. Eventuell hat sie sogar erfahren, dass meine Kleine natürlich einen Berufswunsch hat, so wie ihre Mutter eben als Achtjährige, aber dieses Berufsziel erschien ihr wahrscheinlich nicht ernsthaft genug. Wer weiß, eventuell verschenkt diese Lehrerin damit ungeheures Potenzial? Vielleicht wäre auch ich eine gute Agentin geworden, wenn ich einmal dieses kleine Problem der Geheimnisträgerschaft bewältigt hätte.
    Nun ist natürlich nicht eine Lehrkraft wie die andere. Ich kenne einige Pädagogen, die bei meiner Anekdote hörbar entsetzt nach Luft schnappen, weil eine Grundschullehrerin kindliche Fantasie zugunsten rationaler Zukunftsplanung schon so früh zurückgedrängt sehen möchte. Aber trotz aller Unterschiede sind alle Lehrer in öffentlichen Schulen im selben deutschen Bildungssystem. Und dieses System fordert seit den ersten PISA-Ergebnissen enormen Leistungszuwachs in der Schule. Daher beschäftigt alle Lehrer in unserer modernen Zeit vornehmlich eine Frage, die ganz offensichtlich
auch die Klassenlehrerin meiner Tochter umtreibt: Wie motiviere ich Kinder, die geforderten Höchstleistungen zu bringen, wenn ich nicht wie früher den Rohrstock benutzen will/kann/darf oder Kinder stundenlang in die Ecke stelle?

Kontrolle und Leistungsdruck auf allen Seiten
    Seit Anfang dieses Jahrtausends stehen nicht nur Kinder, Mütter und Erzieherinnen unter Druck, bessere Leistungen erbringen zu müssen, sondern auch Lehrer werden zunehmend beobachtet und kontrolliert. Es gab zahlreiche Schulreformen, die das ganze positive Lernklima ein bisschen auf Trab bringen sollten, und die Lehrer wurden und werden verstärkt regelmäßig in Visitationen der Schulbehörde oder des Ministeriums begutachtet.
    Das ist im Grunde eine feine Sache. Ich kann mich erinnern, dass meine gesamte Schulklasse auf dem Gymnasium in Klasse 5 und 6 bei einem Herrn, seines Zeichens Geschichtslehrer, im Unterricht Dinosaurier malen musste, während der Mann vergnügt und schweigend vorne am Pult seine Lieblingsbücher las. Nach zwei Jahren flog die Sache auf, der Lehrer durfte eine andere Klasse beglücken und wir mussten in der Klasse 7 bei einem anderen Lehrer die Geschichte von den Dinosauriern bis zur Französischen Revolution im ersten Halbjahr lernen. Im Nachhinein frage ich mich, wie so etwas überhaupt möglich war. Aber wir Schüler sahen es positiv: So manch einer, der miserabel in Geschichte war, war exzellent im Dinosaurier-Malen, und das ist ja auch was Schönes, unverhofft auf unvermutete Talente zu stoßen.
    So etwas ist heute unvorstellbar. Es könnte gar nicht mehr vorkommen. Es sind nicht nur die Eltern, die die Lehrer ihrer Kinder wachsam im Auge behalten, und nicht nur die regelmäßigen Visitationen im Unterricht, die die Lehre kontrollieren, sondern es sind auch standardisierte Vergleichsarbeiten in den Hauptfächern, die in allen Bundesländern jedes Jahr zu einem bestimmten Termin geschrieben werden. Deren Ergebnisse in ausgewählten Jahrgangsstufen sollen
den Leistungsstand der Schüler und die Qualität der Lehre ermitteln. Mein erster Geschichtslehrer würde heute mit seiner begnadeten Unterrichtstechnik irgendwann gnadenlos auffallen.
    Natürlich möchte jeder Lehrer, dass seine Klasse bei diesen Vergleichsarbeiten gut abschneidet, weil die Zensuren der Kinder die Fähigkeiten eines Lehrers widerspiegeln. Es gibt zwar einen gewissen Argwohn bei Schulamt und Kollegen, wenn alle Arbeiten einer Klasse überragend gut ausfallen, weil jeder Lehrer die Vergleichsarbeiten seiner Klasse benotet - in Bayern wurde 2008 eine Lehrerin aus diesen Gründen strafversetzt -, aber im Allgemeinen gilt: Je besser die Zensuren einer Klasse, als desto besser gilt der Lehrer. Und je besser alle Klassen, desto besser die Ergebnisse einer Schule, desto höher das Ansehen dieser Schule, desto mehr Anmeldungen von neuen Schülern und desto gesicherter ist die Zukunft der Schule und desto netter ist der Schulleiter und desto entspannter ist das Schulklima. Und wenn ein Bundesland viele Schulen hat, die gut bei den Lernstandserhebungen abschneiden, ist die Bildungspolitik des Landes angesehen und desto zufriedener sind die Politiker und desto weniger knifflige Schulreformen gibt es. Mit anderen Worten: gute Noten, schönes

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