Mutterschuldgefuehl
werden gerne daran erinnert (ich weiÃ, wovon ich spreche!), bis man schlieÃlich nachgibt, weil man nicht den Eindruck erwecken möchte, etwas zu verheimlichen.
Unverplante Zeit ist verlorene Zeit
In einer besseren Welt, in der jedes Kind die Aufmerksamkeit und die Betreuung bekommt, die es verdient, in der sechs
Kinder von einer Erzieherin betreut werden, in der genug Geld zur Verfügung gestellt wird und Förderprogramme vom Himmel regnen, in einer solchen Welt würden die Dokumentationen vielleicht von den meisten Eltern mit Freude empfangen werden. In einer Welt aber, in der signifikant wenig Geld in Bildung investiert wird und Erzieherinnen vor Ãberlastung in die Knie gehen, in dieser Welt haben viele Eltern das Gefühl, dass ihre Kinder in diesen Dokumentationen nur analysiert, geprüft und von vornherein aussortiert werden, in Schubladen gesteckt und abgestempelt. Und sie sind nicht bereit, auf Selbstbildung zu vertrauen in dieser Gesellschaft, die sich hehre Ziele auf ihre Stirn schreibt, aber nach wie vor nach Normen und Defiziten wertet und mit altertümlichen Methoden an den Start geht.
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Und so gehen sie vermehrt weiter, die Kurse, jetzt am Nachmittag - Klavier, Geige, Cello, Englisch, Computer, Schach, vielleicht Tennis, FuÃball, Schwimmen, Karate, Reiten, Ballett und Yoga? Kein Problem, wir kriegen alles hin. Unser Nachwuchs soll besser werden, und unverplante Zeit ist verlorene Zeit. Mütter pappen Aufkleber »Mamas Taxi« auf ihr Gefährt und werden zu Terminplanerinnen, Chauffeurinnen und Leistungscoachs ihrer Kinder. Nachmittags und am Wochenende machen sie mit ihnen Schwungübungen zum Schreiben, singen Alphabetliedchen und besorgen Ãbungshefte. Sie lassen lesen, rechnen, malen, schneiden, ausfüllen und auswendig lernen. Alles fleiÃiger denn je. Denn sie sind beunruhigter denn je. Der Bildungsstand ihrer Kinder wird jetzt schon im Kindergarten beobachtet und dokumentiert und die Ergebnisse der künftigen Schule übergeben.
Vielleicht gibt es kein bedeutsameres Zeichen für die tief greifende Umwandlung der Lebensverhältnisse unserer Kinder als dies: Früher war der Ernst des Lebens der Eintritt in die Berufswelt. Heute gilt als Ernst des Lebens der Eintritt in die Grundschule.
Kapitel 7
Ab in die Schule
Als ich klein war, wollte ich Geheimagentin werden. Ich hatte als Achtjährige Spionage-Krimis aus der Readerâs-Digest-Reihe verschlungen, die mit goldfarbenen Bordüren verziert waren, las von diesen wunderschönen klugen Frauen und Männern, die geheimnisvoll von einem Land zum anderen reisten und ihr Leben für das Gute aufs Spiel setzten. Ich stellte mir vor, wie ich - ebenfalls wunderschön und klug - tollkühn und schnell die Welt retten würde. Ich sprang über Mauern, von Brücken und Türmen und eilte geschwind mit den Geheimdokumenten davon. Ich war ganz gefangen in meiner Fantasie.
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»Mutti«, fragte ich meine Mutter, »glaubst du, ich wäre eine gute Agentin?«
Und meine Mutter sah mich an und fragte:
»Kannst du denn ein Geheimnis für dich behalten?«
Ich kleines Plappermäulchen sagte treuherzig und etwas beleidigt.
»Natürlich! Was denkst du denn!«
Und meine Mutter lächelte amüsiert. Und das war dann die ganze Berufsberatung.
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Daran muss ich denken, als ich jetzt vor der Klassenlehrerin meiner Tochter sitze.
»Ja, Frau Hartmann«, sagt die Pädagogin und lächelt mir freundlich zu. Sie ist eine engagierte, beliebte Lehrerin. »Ihre Tochter macht sich ganz gut.« Dann runzelt sie sorgenvoll die Stirn. »Sie ist allerdings doch noch sehr kindlich.«
»Kindlich?«, frage ich. »Was meinen Sie damit?«
»Na, sie macht sich ja noch so gar keine ernsthaften Gedanken um ihre berufliche Zukunft.« Die Lehrerin spitzt missbilligend die Lippen und schaut mich dann ernst an. »Sie weià ja noch gar nicht, was sie einmal werden will und welche Noten dafür wichtig sind.«
Ich hole tief Luft und dann lache ich einmal laut und böse.
»Ja, Gott sei Dank«, sage ich und lehne mich vor, »sie ist ja auch erst acht!«
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Was sich hier wie eine kleine, nett erdachte Anekdote anhört, damit ich meinen Text hier ein bisschen aufpeppen kann, ist nicht erfunden. Wir sind in einer ganz normalen Grundschule, 3. Klasse, Elternsprechtag. Und wie man sieht, ist diese Klassenlehrerin hier nicht geneigt, auf die
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