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Mutterschuldgefuehl

Titel: Mutterschuldgefuehl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Hartmann
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wird gemessen und gewogen, und dann werden wir der Amtsärztin vorgeführt. Diese führt weitere Tests mit meiner Tochter durch, die alle klären sollen, ob das Kind schulreif ist. Gleichgewichtssinn, Raumwahrnehmung, Aufmerksamkeit, Sprache und so weiter und so fort.
    Diese Ärztin ist eine sehr spröde Person. Ich bin froh, dass meine Tochter sich nicht einschüchtern lässt von ihrer Art, wie sie mit ihr spricht. Soziale Kompetenz ist wichtig für die Einschulung, das weiß ich ja.
    Die Ärztin nickt mir kühl zu.
    Â»Bitte füllen Sie das hier aus.« Sie gibt mir einen Vordruck.
    Â»Es ist anonym«, sagt sie. »Sie können sich da vorne hinsetzen und schreiben.«
    Sie zeigt auf einen Stuhl an einem Tischchen ihr gegenüber. Mein Blick fällt auf die Fragen. Sie gehen ans Eingemachte. Wie meine Tochter ist, das wissen sie ja schon. Sie haben die Dokumentation des Kindergartens und sind außerdem gerade
dabei, sie zu testen. Jetzt wollen sie offenbar wissen, warum das Kind so ist, wie es ist. Das gläserne Kind und die gläserne Familie.
    Â»Welchen Schulabschluss haben Sie? Nennen Sie bitte nur den höchsten Abschluss. Bitte für beide Elternteile angeben.«
    Â»Haben Sie eine abgeschlossene Berufsausbildung? Wenn ja, welche?«
    Es geht detailliert weiter: Ob, als was und wie viele Stunden sind mein Mann und ich berufstätig? Bei wem lebt das Kind? Wie lange hat es eine Kita oder ähnliche Tageseinrichtungen besucht? Mit wie vielen Geschwistern lebt es zusammen? Hat es ein eigenes Zimmer und falls nicht, mit wie vielen muss es ein Zimmer teilen?
    Das Fernsehen hat es ihnen besonders angetan. Offenbar macht gerade wieder jemand eine Studie.
    Â»Hat Ihr Kind/Haben Ihre Kinder einen Fernseher im Kinderzimmer?« - »Wie lange sieht Ihr Kind im Durchschnitt fern?« (Sieben mögliche Antworten von »gar nicht« bis ȟber 4 Stunden«). Alleine oder im Beisein der Eltern? - Während der Mahlzeiten? - Isst das Kind » beim Fernsehen Süßigkeiten/Chips«?
    Es ist wirklich interessant, welche Informationen zur Einschulung heutzutage vonnöten sind.
    Die Fragen gehen über zu Computerbenutzung, Gameboy, Playstation (wie lange? Fünf mögliche Antworten) und werden dann elegant auf den Freizeitbereich ausgerichtet. Spielt das Kind täglich im Freien außerhalb des Kindergartens, wenn ja, wie lange (vier mögliche Antworten), überwiegend alleine, in Begleitung von Eltern, Geschwistern oder Freunden? Ist das Kind in einem Sportverein, in einer Musikschule oder Sonstigem?
    Â» Wie oft lesen Sie Ihrem Kind ein (Bilder) Buch vor? «
    Und schließlich: » Rauchen Sie ?«
    Ich bekomme gleich wieder ein schlechtes Gewissen, wenn mir auch nicht ganz klar wird, warum eigentlich. Ich rauche ja gar nicht. Aber Hut ab vor dem Gesundheitsamt! Sehr raffiniert! Nicht nur, dass sie uns Eltern noch einmal eben so im Vorbeigehen elegant übermitteln, dass wir Eltern unter Beobachtung stehen, sondern auch die Art und Weise, wie sie
uns diese Angaben entlocken. Hätte man mir diesen Bogen in der Fußgängerzone vor die Nase gehalten und um Antworten gebeten, hätte ich den Bogen gesichtet, abgewunken und wäre weitergelaufen. Jetzt sitze ich in der Falle. Ich kann schlecht davonlaufen, während sie mein Kind haben. Und wer hat schon die Traute, sich bei einer Schuleingangsuntersuchung, die ja offenbar über die gesamte Zukunft des eigenen Kindes entscheiden kann, aufzulehnen?
    Das hier funktioniert in etwa so wie bei den Kinderuntersuchungen beim Arzt und den Dokumentationen der Kita: Wenn ich nicht mitmache, mache ich mich verdächtig. Und das wird doch dokumentiert, oder? Soll die Kleine von Anfang an unter ihrer renitenten Mutter leiden? So allmählich gehen mir diese Überwachungsmanieren gehörig auf die Nerven. Bin ich die Einzige, die diese Fragen unverschämt und diskriminierend findet? Was geht das Schulamt mein Bildungsniveau, meine Arbeitssituation und mein Privatleben an? Was sagt das über meine Qualitäten als Mutter aus? Mit hochroten Wangen vor Scham, derart ausgefragt zu werden, fülle ich den Bogen aus und reiche ihn der Ärztin. Ich fühle mich wieder einmal an den Pranger gestellt und in Schubladen gesteckt und habe doch gar nichts getan, außer ein Kind zu haben. Im Stillen frage ich mich, wie ich diesen Bogen ausfüllen würde, wenn ich Kettenraucherin wäre, mein

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